Seelenmoerder
sich dabei immer unloyal vor. »Sie hat im Lauf der Jahre eine ganze Menge Diagnosen gestellt und ebenso viele Medikamente verschrieben bekommen. Bipolare Störung trifft es wahrscheinlich am besten. Man hat ihr auch schon eine antisoziale Persönlichkeitsstörung attestiert.« Und wenn man ehrlich war, stimmte das wahrscheinlich ebenfalls. Callies Probleme zu identifizieren lohnte sich lediglich, um die entsprechende Behandlungsform wählen und ihre Entscheidungen nachvollziehen zu können.
Er trank einen Schluck Wasser, ehe er die Flasche senkte und sie ansah. »Neigt zu aggressiven und gewalttätigen Ausbrüchen? Kümmert sich nicht darum, welche Konsequenzen ihr Handeln für andere hat? Wechselt ständig die Sexualpartner?«
Ihre bisher so heitere Stimmung schwand und machte bösen Vorahnungen Platz. Sie stellte ihr Glas vorsichtig auf den Tisch. »Was soll das, Ryne?«
Er setzte eine undurchdringliche Miene auf, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihr nicht gefallen würde, was er ihr zu sagen hatte. »Ich habe mich ein bisschen umgehört. Genug, um zu wissen, dass du sie wahrscheinlich zur Beobachtung eine Zeitlang einweisen lassen könntest. Nur so lange, bis gesichert ist, dass sie die nötige Hilfe bekommt.«
Sie lächelte verkniffen. Er wollte ihr beibringen, wie sie mit ihrer Schwester umzugehen hatte? Ganz schön frech. Abbie kannte sich mit den Gesetzen über Zwangseinweisungen in verschiedenen Bundesstaaten bestens aus. Doch die Gesetzgebung kümmerte sich nie um den emotionalen Preis, den solche Maßnahmen kosteten. Einen Preis, den sie ebenso zu bezahlen hatte wie ihre Schwester. »Ich weiß schon, wie ich mich um Callie kümmern muss.«
Er blickte beiseite und verzog den Mund zu der schmalen Linie, die sie mittlerweile kannte. »Manchmal sind wir zu nah dran. Können nicht sehen, was getan werden muss, weil wir von Gefühlen geblendet werden. Sie hat dir wehgetan, Abbie. Du hast mir einmal versichert, dass sie das nie tun würde, aber sie hat dich so schwer verletzt, dass du genäht werden musstest. Selbst wenn sie für niemand anders eine Gefahr darstellt, ist sie auf jeden Fall eine Gefahr für dich. Das musst du einsehen. Mein Gott, das Profil, das du von dem Täter entworfen hast, müsste dir eigentlich klarmachen, welchen Schaden Menschen anrichten können, die missbraucht worden sind.«
Ein stählernes Band schnürte Abbies Brustkorb zusammen, und sie rang mühsam um Luft. Dass er das, was sie ihm über die gemeinsame Kindheit mit ihrer Schwester anvertraut hatte, benutzte, um seine Argumentation zu untermauern,
war mehr als schmerzhaft. Sein Verrat traf sie wie ein Messerstich. »Du vergleichst meine Schwester – meine Schwester - mit diesem kranken Schwein, das wir suchen? Was ist nur los mit dir?«
»Sie ist auf einigen der Fotos aufgetaucht, die in Juárez’ Stammkneipen gemacht worden sind. Du musst zugeben, dass es Parallelen gibt …«
»Ein hoher Prozentsatz von Straftätern ist früher einmal missbraucht worden«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. Sie ballte die Fäuste so fest, dass sich die Nägel in die Handflächen gruben. »Aber diese Täter machen lediglich einen verschwindend geringen Teil aller Missbrauchsopfer aus. Was neulich passiert ist …« Sie zögerte, als sich leise Zweifel in ihr regten. »Das war eine einmalige Sache«, erklärte sie mit einer Gewissheit, die sie gern empfunden hätte. Ryne war schuld an ihren Zweifeln, da er sie über ein Thema, von dem er nichts verstand, ausgefragt und ihr dazu Ratschläge erteilt hatte, nur um sie zu einer Entscheidung zu drängen, an der sie und Callie noch jahrelang zu tragen hätten.
Mit bedrückter Miene begann er erneut zu sprechen. »Ich möchte nicht, dass diese Sache zwischen uns steht. Aber meiner Meinung nach ist Callie eine tickende Zeitbombe, und wenn sie explodiert, bist du die Erste, die verletzt wird. Denk mal darüber nach. Du solltest doch am besten wissen, wie wichtig es ist, alle Seiten einer Angelegenheit zu betrachten.«
Der Kloß in ihrer Kehle wuchs zu einem Felsblock an. Mit plötzlicher Klarheit begriff sie, warum sie bisher nie einen Mann so nah an sich herangelassen hatte.
Ohne ein weiteres Wort stand sie auf, griff sich ihre Tasche und ging zur Tür.
Sein Stuhl scharrte hinter ihr. »Abbie, bleib da. Ich würde so etwas nicht sagen, wenn ich dich nicht gernhätte.«
An der Tür hielt sie inne und blickte ihn ein letztes Mal über die Schulter an. Wie sie ihn da stehen sah, mit
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