Seelenmoerder
dass es aufhörte, war ein noch größeres Glück. Zum ersten Mal überhaupt würde Abbie die Grundsätze vergessen, nach denen sie ihr Leben
gelebt hatte, und die Hand nach dem ausstrecken, was sie haben wollte, ohne sich über die möglichen Folgen den Kopf zu zerbrechen.
Offenbar hatte ihre Miene einen Teil ihrer Gedanken gespiegelt, denn als er sich ihr erneut zuwandte, musterte er sie aufmerksam. »Du siehst auf einmal sehr zufrieden mit dir aus.«
»Na ja, ich sitze hier und trinke Wein, während du mir ein Abendessen kochst«, erwiderte sie. »Der Anblick ist nicht übel«, fügte sie hinzu.
Er verzog das Gesicht. »Nicht übel? Ist das alles?«
»Dann vielleicht ein absolut umwerfendes Prachtstück von Mann?«
Er zwinkerte ihr zu und griff erneut nach seinem Wasser. »Schon besser. Freut mich, dass dir mein Prachtstück gefällt.« Als ihr dazu die Worte fehlten, grinste er. »Leider gibt es meinen Adoniskörper und mein unerschütterlich heiteres Wesen nicht umsonst, also deck mal den Tisch. Geschirr ist im Schrank neben dem Herd.«
Es kam ihr erstaunlich normal vor, ihm gegenüberzusitzen und ihm dabei zuzusehen, wie er dreimal so viel Spaghetti verputzte wie sie, während sie über ihre Ermittlungen ebenso plauderten wie über Politik.
»Du bist wirklich eine sentimentale Linke«, warf er ihr vor, nachdem sie heftig einen bestimmten Standpunkt verteidigt hatte, und schenkte ihr Wein nach. »Wer hätte das gedacht?«
»Und du bist ein typischer Konservativer, der die Todesstrafe als Lösung für die meisten gesellschaftlichen Missstände betrachtet«, entgegnete sie und lehnte sich wohlig satt zurück.
»Nicht für alle Missstände«, erwiderte er träge. »Nur für ungefähr die Hälfte der Gefängnispopulation.«
»Du tust so knallhart.« Sie trank einen Schluck Wein. »Aber du siehst nicht annähernd alles so schwarz-weiß, wie du vorgibst.«
»Tatsächlich«, sagte er provokant. »Und woher weißt du das?«
»Ich wette, du hast den Zusammenstoß mit McElroy gestern Abend nicht gemeldet.« Es war eine Vermutung, doch sie sah ihm auf der Stelle an, dass sie richtig getippt hatte. »Du hast Dixon kein Wort davon erzählt. Und Captain Brown auch nicht.«
Er blickte beiseite. »Es hätte nichts gebracht. Nick ist nicht so dumm, dass er dich noch mal belästigt. Natürlich ist er nicht ganz bei Trost, klar. Aber nur weil er sich seinen Sarg gezimmert hat, muss ich nicht derjenige sein, der den Deckel darauf festnagelt.«
Sie lächelte, zufrieden, dass sie ihn richtig eingeschätzt hatte. »Stimmt. Er hat sich selbst eine ziemlich tiefe Grube gegraben. Und Dixon kommt mir nicht gerade wie einer vor, der Fehltritten gegenüber besonders tolerant wäre.«
»Nur bei seinen eigenen.« Ryne tunkte die restliche Soße auf seinem Teller mit dem letzten Stück Brot auf.
»Warum hat er Boston eigentlich verlassen?«
»Weiß ich nicht genau. Es wurde gemunkelt, dass er im Bürgermeisteramt großen Mist gebaut haben soll, doch ein paar Wochen, nachdem er gegangen war, habe ich gehört, dass er den Job hier in Savannah bekommen hat, also war es wahrscheinlich nur Tratsch.«
»Soweit ich weiß, ist seine Frau die Nichte des Polizeichefs«, sagte sie. »Du bist nicht der Einzige, der Tratsch zu hören bekommt«, fuhr sie fort, als sie seine hochgezogenen Brauen sah.
»Das stimmt, aber er hat sich hier ziemlich gut geschlagen.« Ryne stand auf, ging zum Kühlschrank und holte sich
noch eine Flasche Wasser. »Hast du heute schon etwas von Callie gehört?«, fragte er, während er sie öffnete.
Die Frage kippte einen Wermutstropfen der Besorgnis in Abbies gute Laune. »Sie ist weder an ihr Handy noch an ihr Zimmertelefon gegangen. Momentan wohnt sie in den A-1 Suites in der Oglethorpe. Ich fahre morgen mal vorbei und sehe nach ihr.« Außerdem wollte sie sich vergewissern, dass Callie nach wie vor die verordneten Medikamente schluckte. Hoffentlich würde Callie auch ihren Termin bei dem neuen Psychiater wahrnehmen. Am besten begleitete sie ihre Schwester dorthin, denn man durfte nicht unbedingt darauf bauen, dass sich Callie einem neuen Therapeuten gegenüber entgegenkommend zeigen würde. In Abbies Augen fehlte Callie jegliche Fähigkeit zur Selbsterkenntnis.
»Du hast gesagt, sie hat eine bipolare Störung. Dagegen gibt es doch Medikamente, oder?«
Leises Unbehagen befiel sie. Sie hatte die Probleme ihrer Schwester noch nie mit jemand anderem besprochen als mit Callies Therapeuten. Irgendwie kam sie
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