Seelenmoerder
sie nicht gerade stolz war. Doch der Kuss, den sie mit ihm ausgetauscht hatte … Die Erinnerung daran hatte ihr den ganzen Tag im Hinterkopf herumgespukt. Auf den Fahrten zu ihren Gesprächspartnerinnen und wieder zurück. Während der Gespräche. Die meisten
Menschen wären glücklicher, wenn ihr Gedächtnis auf Kommando funktionieren würde, doch das ging nicht. Und da sie die Wiederholungen im Geiste nicht stoppen konnte, hatte sie wenigstens versucht, sie zu ignorieren.
Rynes Anblick erwies sich als nicht gerade hilfreich bei diesem Versuch. Mit seinem engen schwarzen Baumwoll-Pullover und dem stoppeligen Kinn sah er schmal und gefährlich aus. Eine kragenlose weizenfarbene Jacke hing über seiner Stuhllehne.
Erst als sein Blick auf ihren traf, merkte sie, dass sie ihn angestarrt hatte, und ihre Zunge fühlte sich auf einmal dick an. »Haben … hast du Zeit, mich kurz auf den neuesten Stand zu bringen?«
Er sah auf die Uhr und verzog das Gesicht. »Ich muss bald los. Aber ich drucke dir ein zweites Exemplar aus.« Er drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl zum Computer um und tippte einen Befehl ein. Kurz darauf begann der Drucker an der Wand gegenüber zu rattern. Ryne erhob sich, um die Blätter zu holen, nahm einen zweiten Papierstapel von seinem Tisch und legte beides auf ihren. »Ich würde gern deine Meinung zum Verhör von Juárez’ Exfreundin hören.«
Er hockte sich auf eine Ecke ihres Schreibtischs und beugte sich vor, um ein paar Seiten durchzublättern, ehe er das Gesuchte gefunden hatte. »Als du davon gesprochen hast, dass der Täter mit seiner Frau oder Freundin seine Sonderwünsche umsetzt oder Rollenspielchen treibt … hast du damit so was gemeint?«
Abbie griff das Thema dankbar auf. Hauptsache, irgendetwas lenkte sie von diesem schwarz verpackten, muskulösen Schenkel ab, der sich allzu nah vor ihr befand. Rasch überflog sie die entsprechenden Seiten. »Könnte sein«, sagte sie schließlich gedehnt. »Vor allem bei jemandem, der gerade
erst anfängt, seine Fantasien auszuleben. Wie lange sind sie denn zusammen gegangen?«
»Die Rivera sagt, nur ein paar Wochen.«
Abbie nickte. »Möglicherweise hätte er bei ihr mehr gewagt … mehr von ihr verlangt, wenn sie länger zusammengeblieben wären. Natürlich«, fügte sie sarkastisch hinzu, »ist auch denkbar, dass er lediglich einen Herr-Sklavin-Fetisch auslebt. Das ist weiß Gott nichts Ungewöhnliches.«
»Deine Antwort ist also … ja? Oder vielleicht auch nein?«
Sie grinste über seinen ironischen Tonfall. »Genau.«
»Sehr hilfreich.« Er erhob sich, ging aber nicht weg. »Und ungefähr so eindeutig wie die anderen Spuren in diesem Fall. Cantrell und McElroy haben ein paar Namen erfahren, als sie mit Prostituierten über Freier gesprochen haben, die sie brutal angefasst haben. Wir überprüfen das. Das Einzige, was wir Juárez momentan zur Last legen konnten, sind Tätlichkeiten und Drogenbesitz, daher wurde er heute Nachmittag auf Kaution entlassen. Aber er wird rund um die Uhr überwacht.« Er hielt inne, doch sie sagte nichts. »Na los, sag’s schon.«
»Ich habe gar nichts gesagt.«
»Ich weiß. Und das ziemlich laut. Du glaubst immer noch nicht, dass er es war.«
»Ich glaube«, sagte sie mit überdeutlicher Aussprache, »dass wir, wenn wir uns Meinungen bilden, ehe wir jede Spur gründlich untersucht haben, womöglich blind werden für …«
»Unsinn. Du glaubst, er war es nicht. Aber wir haben allen Grund, uns auf ihn zu konzentrieren.«
»Ja.« Da es eine gewisse Distanz zwischen ihnen schuf, lehnte sie sich zurück. »Juárez ist eine wertvolle Spur, ob er nun der Täter ist oder nicht.« Ryne hatte nicht gesagt, wohin er wollte. Angesichts seiner Kleidung vermutete
sie, dass er ein heißes Date hatte, und bei dem Gedanken krampfte sich ihr Magen zusammen.
»Genau.« Er schien ganz vergessen zu haben, dass er eigentlich gehen wollte. »Und zwar wegen der entsprechenden Blutspur in seinem Wagen.«
Sie nickte. »Sein Geländewagen wurde im Zuge einer Vergewaltigung benutzt, und das macht ihn unabhängig davon, ob er direkt daran beteiligt war, zu einer Art Schnittstelle. Wir haben versucht herauszufinden, wie der Täter auf seine Opfer aufmerksam wurde. Jetzt müssen wir eine weitere Person einbeziehen. Falls Juárez nicht unser Täter ist – wie ist er dann ins Visier des Täters geraten?«
»Ob er nun Täter oder Opfer ist – wir werden auf jeden Fall sein Leben in sämtliche Einzelteile zerlegen und
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