Seelenmoerder
Maske abgelöst worden. Und obwohl sie in gewisser Weise
erleichtert war, bedauerte sie in ihrem tiefsten Innern den Umschwung. »Ich weiß nicht einmal, ob sie mittlerweile wieder gehen kann. Der Täter hat sie mit dem Hammer übel zugerichtet. Aber ich habe selbst nie mehr aus ihr herausbekommen als bei der Erstbefragung.«
»Vielleicht schaue ich heute Abend noch bei ihr vorbei«, sagte sie und legte den Kopf schief, um auf Rynes Uhr zu schauen. Ein Gespräch mit Ashley Hornby könnte die Theorie stärken, an der sie noch feilte, oder sie komplett zunichtemachen. So oder so, es drängte sie, die Wahrheit herauszufinden. »Ich habe in den Akten keine Kontaktdaten ihrer Angehörigen gefunden.«
»Sie hat eine Schwester, aber die ist in Afrika unterwegs. Während Ashley Hornby im Krankenhaus lag, haben wir ihr über die Kirche, die ihre Missionsreise finanziert, eine Nachricht zukommen lassen, aber es ist schwer zu sagen, wann sie die bekommt.«
Abbie nickte und nahm sich vor, Freunde von Ashley Hornby zu bitten, sie zu einer Zusammenarbeit mit der Polizei zu bewegen. Es war zwar ungewöhnlich, dass sich ein Opfer völlig aus den Ermittlungen heraushielt, kam jedoch hin und wieder vor. Zumindest wollte Abbie dafür sorgen, dass man sich um das seelische Gleichgewicht der Frau kümmerte. Nach einem solchen Trauma allein zu bleiben tat Ashley nicht gut, selbst wenn es ihr fürs Erste so vorkommen mochte.
»Also.« Ryne warf einen letzten Blick auf die Uhr. »Jetzt muss ich aber wirklich los.« Er klang ungefähr so begeistert, als müsste er zu einer Beerdigung. »Dann bis morgen.«
Sie nickte. »Wenn du ihn lange genug allein erwischst, sieh zu, dass du Dixon rumkriegst.«
»Oh, ich erwische ihn garantiert allein«, sagte Ryne mit grimmigem Lächeln und nahm seine Jacke. Er warf ihr einen
letzten langen Blick zu, hob die Hand und wandte sich zum Gehen. »Arbeite nicht zu lang.«
Kaum war er ein paar Schritte gegangen, blieb er schon wieder stehen und drehte sich zu ihr um. »Übrigens, wegen gestern Abend …«
Angstschauer jagten ihr den Rücken hinauf. Es kostete sie ihren ganzen Mut, seinem Blick zu begegnen und gelassen zu antworten: »Vergiss es. Es ist nie passiert.« Rasch zog ein anderer Ausdruck über sein Gesicht, jedoch zu schnell, als dass sie ihn hätte deuten können. Ärger? Frustration?
»Oh, es ist aber passiert«, erwiderte er mit seidenweicher Stimme. »Und es fällt mir verdammt schwer, es zu vergessen.«
Damit wandte er sich ab und ging zwischen dem Meer aus Schreibtischen hindurch, ohne sich noch einmal umzudrehen. Das war auch besser so, denn Abbie wäre es entsetzlich peinlich gewesen, wenn er gesehen hätte, wie sie mit offen stehendem Mund seinen schmalen Hüften nachsah.
Sobald er verschwunden war, lehnte sie sich matt auf ihrem Stuhl zurück und atmete stockend aus. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er erleichtert wäre. Indem sie die Sache locker abhandelte, hatte sie ihm einen Ausweg aufzeigen wollen. Ihnen beiden. Doch er hatte nicht erleichtert reagiert. Sein Geständnis hatte sie wie aus heiterem Himmel getroffen.
Und es fällt mir verdammt schwer, es zu vergessen.
Vielleicht sollte sie sich darüber freuen, dass ihm der Kuss ebenso viel bedeutet hatte wie ihr. Doch auf jeden Fall sollte sie sich abgewöhnen, schon beim Gedanken daran, sich mit einem Mann einzulassen, der keines ihrer gewohnten Kriterien erfüllte, in helle Panik zu verfallen.
Ryne war nicht harmlos. Er ließ sich nicht leicht kontrollieren. Und er würde sich nicht ohne weiteres aufs Abstellgleis
schieben lassen. Doch das schmälerte seine Anziehungskraft nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil.
Entschlossen zwang sie sich, ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bericht zuzuwenden, den er für sie ausgedruckt hatte. Doch nachdem sie dreimal versucht hatte, die erste Seite zu lesen, stieß sie ein Schimpfwort aus, stand auf und stopfte die Blätter in ihre Aktenmappe, um sie später zu Hause zu lesen.
Sie setzte sich vor den Computer in der Ecke des Büros und tippte das Passwort ein, das Ryne ihr genannt hatte, damit sie die Datenbanken der Polizei benutzen konnte. Noch nie hatte sie sich durch einen Mann von einem Fall ablenken lassen, und Ryne Robel würde da keine Ausnahme darstellen, ganz egal, wie gut der Mann küsste.
Binnen zwanzig Minuten war sie so in die Ermittlungen vertieft, dass ihre Gedanken an Ryne in die hinterste Ecke ihres Verstands gedrängt wurden, auch wenn sie nicht ganz verschwanden.
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