Seelenmoerder
ignorierte die schwelende Ungeduld, die von Abbie ausging. »Falls Sie gern ausgehen, kann ich Ihnen Houlihan’s oder das Starz empfehlen. Aber halten Sie sich von Joe’s in der Neunundvierzigsten fern. Und in der Locust gibt es ein paar Spelunken, wo es manchmal ganz schön derb zugeht. Anfang der Woche ist im Topsiders jemand erstochen worden. Ich glaube, es war der Barkeeper.«
»Es war ein Gast. Aber keine Sorge.« Sie betastete ihre Halskette, wohl um seinen Blick auf ihren Ausschnitt zu lenken. »Ich kann auf mich aufpassen.«
»Gut zu wissen.«
»Gibt es irgendetwas Dringendes, weswegen du mich sprechen wolltest?«, fragte Abbie spitz.
Ryne ließ den Blick wieder zu ihr schweifen. In ihren Augen braute sich ein Gewitter zusammen. Er schien ein Talent dafür zu haben.
»Ist das Pizza?« Er ging an ihnen vorbei zu der Schachtel auf dem Herd. »Noch was übrig?«
»Bedienen Sie sich.« Callie eilte herbei, um die Schachtel für ihn aufzuklappen, worauf vier Stücke Peperonipizza zum Vorschein kamen. Mortadella wäre ihm lieber gewesen, doch er konnte nicht wählerisch sein.
»Du kannst sie mitnehmen«, sagte Abbie hinter ihm. Sie bemühte sich gar nicht mehr um einen neutralen Tonfall. Er biss von der Pizza ab und sah sie an. Sie war richtig sauer, und ihm wurde irgendwie leicht ums Herz. Er hatte keine Ahnung, was es über ihn aussagte, dass er sie lieber fuchsteufelswild erlebte, statt sich von ihr mit diesem ausdruckslosen Blick mustern zu lassen, den sie so perfekt beherrschte, doch so war es eben.
»Abbie, lass das. Der Mann hat Hunger.« Callie zwinkerte ihm anzüglich zu. »Manchmal … packt mich selbst auch so ein … Heißhunger.«
Da er plötzlich nicht mehr schlucken konnte, kaute Ryne weiter. Callie legte offenbar keinen Wert auf dezentes Auftreten. »Sind Sie über Atlanta nach Savannah geflogen? Gab es Schwierigkeiten?«
Schweigend lauschte er Callies lebhafter Schilderung ihrer Reiseabenteuer und verputzte die restliche Pizza. Irgendwo zwischen dem zweiten und dem dritten Stück ging
ihm auf, dass es noch einen weiteren Unterschied zwischen den beiden Frauen gab.
Abbie hatte Geheimnisse. Ihre Abwehrmechanismen waren fest installiert. Doch ansonsten war sie ehrlich.
Callie Phillips war eine Lügnerin.
Immer wieder legte er ihr harmlos klingende, aber bewusst formulierte Fragen vor wie Köder, und sie tappte mit ihren Antworten bereitwillig in jede Falle. Ob Abbie wohl all die Widersprüche in Callies Aussagen registrierte? Oder war sie zu wütend auf ihn, um darauf zu achten?
Als Callie fertig war, hakte er nach. »Wohnen Sie hier bei Ihrer Schwester?«
Es kam ihm so vor, als wäre die Frau näher gekommen, obwohl sie sich seines Wissens nicht bewegt hatte. »Hier? Nein, zu eng.« Sie hob die Hand und wischte sich mit dem Zeigefinger über den Mundwinkel. »Ich brauche meine Privatsphäre. Und ein eigenes Schlafzimmer.« Sie warf Abbie einen verschlagenen Blick zu. »Wir hatten doch nie ein gemeinsames Schlafzimmer, oder, Abbie?«
»Nein.«
Das Wort kam gequält. Ryne nahm die Untertöne durchaus wahr, konnte jedoch den Grund dafür nicht ausmachen.
»Sonst hättest du vielleicht nicht so viele Ängste.« Callie wandte ihren bemühten Unschuldsblick erneut Ryne zu. »Meine kleine Schwester fürchtet sich vor der Dunkelheit. Unter anderem.«
Er spürte, wie Abbie neben ihm erstarrte, und wurde das Spielchen auf der Stelle leid. »Wir fürchten uns alle vor irgendetwas.«
»Ich nicht, Detective.« Callie fuhr mit dem Nagel ihres Zeigefingers kokett seine Knopfleiste entlang. »Ich fürchte mich vor nichts. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie … befreiend das ist.«
»Wenn das dann alles war, Detective Robel …« Abbie ging zur Tür und zog sie auf. »Es war ein langer Tag.«
Doch es war Callie, die nach einem raschen Blick auf die Wanduhr hinausging. »Ich muss los. Ich ruf dich morgen an, Abbie.«
»Warte. Soll ich dich fahren?« Abbie folgte ihrer Schwester hinaus auf die Veranda. »Wo wohnst du denn?«
»Ich werde abgeholt. Mach dir keinen Stress. Ich melde mich.«
Ryne sah zu, wie sich die beiden umarmten und Callie verschwand. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Abbie zu ihm umwandte. Sie machte keinen Hehl aus ihrem Groll.
»Es gibt eine interessante neue Erfindung, von der du vielleicht schon gehört hast. Ein sogenanntes Telefon.« Sie hielt demonstrativ ihr Handy hoch. »Probier es doch mal aus, bevor du nächstes Mal unangemeldet hier
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