Seelenmoerder
Medikamente abgesetzt hatte.
War das endlose Geplapper nicht ein bisschen zu frenetisch? Waren ihre Gesten nicht übertrieben und ihre Themenwechsel nicht allzu sprunghaft? Abbie warf einen unauffälligen Blick auf Callies Arme, die das hautenge Trägertop unbedeckt ließ. Es waren keine Spuren zu sehen, doch bei Drogen neigte Callie ohnehin zu solchen, die sie schnupfen oder schlucken konnte.
Abbie lächelte und nickte im Rhythmus zu Callies seltenen Sprechpausen, während sie auf jede Nuance im Tonfall ihrer Schwester und jede Veränderung ihrer Mimik achtete.
Die permanente stillschweigende Beobachtung war ihr bereits in Fleisch und Blut übergegangen.
Wahrscheinlich hatte Callie nichts genommen, also leider auch nicht die ärztlich verordneten Medikamente. Ihre Bewegungen waren schnell und dynamisch, und sie hatte ihren Monolog nicht beendet, sondern war zu einer humorvollen Schilderung ihres Versuchs übergegangen, mehrere Flaschen echten französischen Cognacs durch die Kontrollen am Flughafen zu schmuggeln. Womöglich befand sie sich bereits in einem Vorstadium der manischen Phase.
Andererseits war aber auch denkbar, dass sie sich einfach freute, ihre Schwester zu sehen. Dass sie Abbie in der langen Zeit, die sie getrennt gewesen waren, vermisst hatte und wieder eine Beziehung zu ihr aufbauen wollte.
Während die Vernunft die Oberhand über ihre Gefühle errang, staunte Abbie darüber, wie gern sie daran glauben wollte. Wie sehr sie wenigstens für einen begrenzten Zeitraum glauben wollte, dass sie ganz normale Schwestern waren, deren Beziehung auf Liebe beruhte, nicht auf einem Trauma.
Sie folgte ihrer Schwester ins Haus und beobachtete sie weiter. Als ihr bewusst wurde, wie blass Callie trotz der Geschichte von der langen Kreuzfahrt war, erkannte sie die Wahrheit. Doch das änderte nichts an ihren Gefühlen. Nicht in diesem Moment. Trotz der Sorge, die stets die Gedanken an ihre Schwester begleitete, war sie Abbies einzige Verwandte. Und in den nächsten Stunden würde sie sich auf diese Tatsache konzentrieren und auf weiter nichts.
Callie trat derweil mit sicherem Schritt über den zu hoch geratenen Absatz zwischen Wohnzimmerteppich und Küchenlinoleum. Abbie war in den ersten Tagen hier mehr als einmal gestolpert.
»Callie?« Sie wartete, bis sich ihre Schwester umdrehte und ihr das perfekte, scharf geschnittene Profil zuwandte.
Abbie machte die Tür hinter sich zu. »Es ist wirklich schön, dich wiederzusehen.«
Eigentlich hätte Ryne nach Beendigung seiner anderthalbjährigen Trockenheitsphase ein schlechteres Gewissen haben müssen. Doch es waren nicht die zwei Fingerbreit Jim Beam, die er in den letzten zwei Stunden bereut hatte. Nachdem er sich schweren Herzens verkniffen hatte, Dixon nachzugehen und ihn nach Strich und Faden zu verprügeln, hatte er die Neuigkeit, die dieser ihm anvertraut hatte, nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Er war aufs Revier zurückgekehrt und hatte versucht, in den Datenbanken so viel wie möglich über Karen Larsen und das Feuer zu finden, das ihr Haus zerstört hatte. Das, was er gefunden hatte, hatte lediglich weitere Fragen nach sich gezogen.
War überhaupt denkbar, dass es noch ein weiteres Opfer gab? Eines, das sich trotz der ausführlichen Berichterstattung in den Medien bisher nicht gemeldet hatte? Oder vielleicht gerade deshalb? Und falls ja, könnte Karen Larsen tatsächlich über Informationen verfügen, die ihnen endlich eine brauchbare Spur aufzeigen würden?
Fragen, die unbeantwortet bleiben würden – zumindest bis morgen. Karen Larsen ging nicht ans Telefon, und das war vermutlich auch gut so. Er musste sich erst genau überlegen, wie er sie anfassen wollte. Wenn sie so ohne weiteres bereit wäre, mit der Polizei über den Vorfall zu sprechen, hätte sie es ja bereits getan. Er musste einen Ansatzpunkt finden, über den er an sie herankam.
Dummerweise war ausgerechnet die Person, die ihm dabei am besten hätte helfen können, momentan absolut nicht geneigt, mit ihm zu sprechen, sei es über den Fall oder sonst etwas.
Beim Gedanken an Abbie verkrampfte sich sein Kiefer.
Was auch immer er von ihrer neuesten Theorie halten mochte, es wäre ihm lieber gewesen, wenn das Profil nicht über die Reihen der Polizei hinaus bekannt geworden wäre. Dixon hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er die Presse darüber informiert hatte, die allem Anschein nach ganz begeistert davon war.
Das war nicht Abbies Schuld, doch er lastete
Weitere Kostenlose Bücher