Seelenmoerder
einfach nicht mehr nur um sich selbst kreisen. Eine Stadt, die Kriege, Feuersbrünste, Epidemien und Wirbelstürme mit solch graziöser Anmut überstanden hatte, rückte die eigenen inneren Kämpfe doch in eine andere Perspektive.
Im Grunde hatte sie keinerlei Veranlassung für inneren Aufruhr, sagte sich Abbie, als sie an der Oglethorpe Avenue abbog und den Blick auf den Colonial Park Cemetery genoss. Sie war nur aus einem einzigen Grund hier, und es war höchste Zeit, sich auf diesen zu konzentrieren, statt sich von Ryne Robels Reaktionen irritieren zu lassen. Ob er nun ihre Einschätzung des Vergewaltigers teilte oder nicht, sie hatte mit ihrem Profil ordentliche Arbeit geleistet, ja sie spürte förmlich, dass sie etwas Entscheidendem auf der Spur war. Morgen würde sie mit neuen Fragen bei den überlebenden Opfern nachhaken und versuchen, ein noch deutlicheres Bild des gesuchten Täters zu zeichnen.
In gelassenerer Stimmung fuhr sie zu ihrem temporären Zuhause. Seit über zwanzig Jahren hatte sie sich nicht mehr von den Launen eines Mannes beeinflussen lassen, und das würde sich auch jetzt nicht ändern. Sie würde es nicht dulden. Ryne hatte das Recht auf seine eigene Meinung, doch eine Meinung würde den Lauf dieser Ermittlungen nicht entscheiden. Entscheidend waren nur Beweise. Und die Suche nach den Fakten, die hinter diesem Fall steckten, einte sie.
Sie sah in den Außenspiegel, beschleunigte und wechselte die Spur. Doch die Erinnerung an den harten Blick seiner blauen Augen jagte ihr noch immer kalte Schauer über den Rücken. In mancher Hinsicht waren sie weiter voneinander entfernt als je zuvor. Und die Traurigkeit, die sie angesichts dieser Erkenntnis erfüllte, war ebenso fremd wie beängstigend.
12. Kapitel
Die Dämmerung hatte bereits lange Schatten über den kleinen Garten geworfen, als Abbie an ihrem Haus ankam. Da es weder Garage noch Carport gab, parkte sie immer am Ende der Zufahrt, an der Rückseite des Grundstücks.
Erst als sie ausgestiegen war, sah sie die Gestalt auf der Veranda hinter dem Haus, doch sie reagierte instinktiv. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung riss sie die Waffe aus dem Knöchelhalfter, richtete sich mit der Sig in der Hand wieder auf und ging hinter dem Auto in Deckung. Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert.
Im nächsten Moment begriff sie, wer es war, doch sie blieb auf der Hut.
»Abbie, Schätzchen, ich weiß, ich habe in letzter Zeit nicht auf deine Anrufe reagiert, aber findest du deine Reaktion nicht ein bisschen übertrieben?« Callie Phillips erhob sich und lächelte gelassen. »Was? Keine Umarmung für die verlorene Schwester?«
In Abbies Hinterkopf gingen altbekannte Abwehrmechanismen in Position. Sie steckte ihre Waffe jedoch ein, ging ums Auto herum und lief in die ausgestreckten Arme ihrer Schwester.
»Oh Mann, wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen.« Callie drückte Abbie fest an sich, ehe sie ein Stück weit von ihr abrückte und sie mit kritischem Blick musterte. »Ab, du fällst ja bald vom Fleisch. Isst du nichts?«
Abbie ignorierte die Frage. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass du in Savannah bist?«
»Ich wollte dich überraschen.« Ein Lachen entfuhr ihr, während sie Abbies polizeitypische Reaktion von vorher imitierte. »Und das ist mir doch gelungen, oder? Ich kann
von Glück sagen, dass ich dafür nicht erschossen worden bin.«
Abbie rang sich ein Lächeln ab und ging voraus, um die Hintertür aufzuschließen. »Ich bin in letzter Zeit mehrmals von Rowdys heimgesucht worden. Da habe ich wohl ohne nachzudenken reagiert.«
Doch jetzt dachte sie nach, und zwar angestrengt. Unauffällig beobachtete sie Callie, während diese Abbie ihre jüngsten Abenteuer schilderte – eine Fahrt zu den griechischen Inseln auf der Jacht eines Freundes, die mit einem Motorschaden geendet hatte, eine Polizeirazzia und ein Heiratsantrag. Abbies erster Eindruck war, dass die letzten vier Monate hart für ihre Schwester gewesen waren.
Callie war zwar das gleiche blonde Gift wie immer, doch sie hatte etwas Zerbrechliches an sich, das bei ihrer letzten Begegnung noch nicht da gewesen war. Bildete Abbie sich nur ein, dass die Stimme ihrer Schwester ein bisschen manisch klang, während sie wie ein Wasserfall über Liebhaber, Trennungen und Jobaussichten schwatzte? Obwohl sie ein schlechtes Gewissen dabei hatte, ging sie aus reiner Gewohnheit eine geistige Checkliste durch, um die Warnzeichen dafür zu erkennen, ob ihre Schwester ihre
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