Seelennacht
richtige Größe, um sie jemandem über den Schädel zu ziehen.
Ich schlug diese Richtung ein, den Blick auf den Fußboden gerichtet, als hielte ich Ausschau nach meinem zerrissenen T-Shirt.
»Ich glaube, jetzt können wir mit diesem Affentheater aufhören, Chloe«, sagte Toris Mutter.
Ich drehte mich langsam zu ihr um und nutzte den Moment, um meinen schönsten ratlos-großäugigen Gesichtsausdruck aufzusetzen.
»Hier liegt nirgendwo ein T-Shirt«, sagte sie, »und hier ist auch kein Treffpunkt. Vielleicht gibt es einen irgendwo in dieser Anlage, aber hier ist er nicht.«
»Versuchen wir’s im nächsten …«
Sie packte mich am Arm, als ich an ihr vorbeiging. »Wir wissen alle, dass du wieder weglaufen willst. Marcel hofft einfach, dass der wirkliche Treffpunkt irgendwo hier in der Nähe ist und du gerade jetzt eine Fährte hinterlässt, die Derek dazu veranlassen wird, zurückzukommen, wenn er glaubt, dass wir weg sind.«
Eine Fährte hinterlassen? O verdammt. Warum hatte ich daran nicht gedacht? Ich brauchte gar nicht selbst hier zu sein, um Dereks Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn er witterte, dass ich auch nur in der Nähe der Fabrik gewesen war …
»I-ich will nicht wegrennen. Ich will Simon helfen. Wir müssen ihn …«
»Die Jungs interessieren mich nicht. Du dagegen schon.«
»Ich?«
Ihr Griff um meinen Arm wurde fester. »Diese Teenager waren seit Monaten in Lyle House und haben sich benommen, haben sich große Mühe gegeben, wollten Fortschritte machen. Dann tauchst du auf, und plötzlich haben wir es mit einer ausgewachsenen Meuterei zu tun. Ganz die kleine Anstifterin, was?«
Ich war der Katalysator gewesen, nicht die Anstifterin. Aber es würde mir keine Bonuspunkte eintragen, sie darüber aufzuklären.
Sie sprach weiter. »Du bist aktiv geworden, während alle anderen ihre Pillen geschluckt und auf Rettung gehofft haben. Meine Tochter hatte nicht mal den Mut, sich dir anzuschließen.«
Na ja … vielleicht weil Sie ihr den letzten Rest von eigenem Willen ausgetrieben haben? Weil Sie ihr erzählt haben, sie müsste die Musterpatientin spielen, damit Sie zufrieden sind?
»Das Schicksal hat uns beiden da einen üblen Streich gespielt, Chloe Saunders. Du bist bei deiner lieben Tante Lauren gelandet, die nie irgendwas tut, außer Bedenken zu haben und die Hände zu ringen – sie wäre genau das Richtige für meine rückgratlose Tochter. Aber wenn das Schicksal uns ungerecht behandelt, kann der freie Wille es richten. Ich könnte mir vorstellen, du und ich, wir könnten zu einer Vereinbarung kommen, die uns beiden hilft.« Sie ließ meinen Arm los. »Dr. Gill hat mir erzählt, du hättest Geister aus Lyles frühen Experimenten kontaktiert?«
Ich sagte nichts, sah sie nur an.
»Ich weiß, dass sie dich darauf angesprochen hat«, fuhr Toris Mutter fort. »Eine Spur fanatisch, unsere Dr. Gill, wie du zweifellos auch festgestellt haben magst. Sie ist vollkommen besessen von Lyles Geheimnissen. Ehrgeiz ist gesund. Besessenheit nicht.« Sie musterte mich. »Also, was haben die Geister dir erzählt?«
»Nichts. Ich hatte sie aus Versehen beschworen, sie waren nicht sonderlich scharf drauf, mit mir zu reden.«
Sie lachte. »Nein, wahrscheinlich nicht. Aber du, in deinem Alter … die Toten zu beschwören?« Ihre Augen funkelten. »Bemerkenswert.«
Okay, das war dumm gewesen. Ich hatte ihr gerade bestätigt, dass ich die Toten beschworen hatte. Lektion zum Thema »Sich cool geben« angekommen – lass es einfach.
»Könntest du noch mal Kontakt aufnehmen?«, fragte sie jetzt.
»Ich könnte es versuchen.«
»Einfallsreich und vernünftig. Das ist eine Kombination, mit der du es weit bringen wirst. Gut, machen wir also Folgendes. Ich erzähle Dr. Davidoff, dass wir die Stelle hier gefunden haben. Das T-Shirt war weg, wahrscheinlich haben die Jungs es mitgenommen. Aber sie haben das hier liegenlassen.« Sie zog ein Blatt Papier aus der Tasche. Es stammte aus Simons Zeichenblock und war sorgfältig herausgerissen worden. Auf einer Seite war eine halbfertige Zeichnung, die unverkennbar Simons Werk war. Auf die Rückseite hatte sie in Großbuchstaben geschrieben: BSC CAFE 2:00.
»Sei um zwei Uhr in der Cafeteria im Buffalo State College«, sagte ich. »Aber das Blatt ist zu sauber, sie würden Ihnen nicht glauben, dass es hier rumgelegen hat.«
Ich nahm es, ging neben den Metallrohren in die Hocke und strich mit dem Papier über den schmutzigen Boden. Dann hielt ich inne und sah aus der
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