Seelennacht
Mutter faltete die Zeitung auf ihren Knien zusammen, ihre langen roten Fingernägel bügelten den Knick glatt. »Ist das Liz’ Sweatshirt, Chloe?«
»V-vielleicht schon. Als wir aus Lyle House weg sind, habe ich meine Sachen im Dunkeln zusammengesucht. Ich habe eins, das genauso aussieht. Ich ziehe es einfach heute an und gebe es dir dann, Tori, dann kannst du es Liz ja zurückgeben.«
»Würde ich dir auch geraten haben.« Tori streckte den Arm aus, um mir das Kapuzenshirt zu reichen.
Ihre Mutter nahm es ihr aus der Hand, faltete es zusammen und legte es sich auf den Schoß. »Ich sorge dafür, dass Liz es bekommt.«
»K-kann ich es heute noch anziehen? Dr. Davidoff hat gesagt, es ist kalt …«
»Du kommst schon zurecht.«
Tori verdrehte die Augen. »Ist doch nicht so schlimm, Mom, gib’s ihr doch einfach.«
»Ich habe nein gesagt. Welchen Teil davon hast du nicht verstanden, Victoria?«
Tori maulte etwas vor sich hin und wandte sich wieder dem Fenster zu.
Ihre Mutter musterte mich. Ihr Gesichtsausdruck war unlesbar. »Ich bin mir sicher, du kommst sehr gut ohne es aus.«
Als der Fahrer uns in der Straße hinter der Fabrikanlage absetzte, klapperten meine Zähne – aber nicht nur vor Kälte. Toris Mutter wusste, warum ich dieses Sweatshirt bei mir gehabt hatte – und dass mir klar sein musste, dass Liz tot war. Warum sonst sollte eine Nekromantin unbedingt eins von Liz’ persönlichen Besitzstücken haben wollen?
Erst Dr. Davidoff, jetzt Toris Mutter. Gab es hier eigentlich jemanden, der meine Pläne
nicht
durchschaute?
Einen Menschen vielleicht. Die Person, die mich möglicherweise immer noch als die süße kleine Chloe betrachtete. Die glaubte, ich hätte im Grunde gar nicht vorgehabt, aus Lyle House zu flüchten, und mich einfach von dem Vorhaben der Jungs mitreißen lassen.
»Tante Lauren?« Ich ging zu ihr hinüber, als sie mit Sue aus dem Auto stieg. Es kam mir vor, als sähe ich eine Fremde, die die Gestalt meiner Tante angenommen hatte.
»Du zitterst ja.« Sie rieb mir die Arme, wobei sie bei dem verletzten Arm sehr vorsichtig war. »Wo ist deine Jacke?«
Ich sah, wie Toris Mutter uns beobachtete. Wenn ich jetzt petzte, würde sie Tante Lauren erklären, warum ich Liz’ Kapuzenshirt hatte haben wollen.
»Hab sie vergessen. Letzte Woche war es wärmer.«
Sie sah sich um. »Hat irgendjemand hier vielleicht eine zusätzliche …«
Der dunkelhaarige Mann von der Verfolgungsjagd am Samstag stieg aus dem Auto und streckte mir eine Nylonjacke hin.
»Danke, Mike«, sagte Tante Lauren und half mir hinein.
Die Enden der Ärmel baumelten fünfzehn Zentimeter unterhalb meiner Fingerspitzen. Ich krempelte sie hoch in der Hoffnung, dass die ganzen Falten die Jacke etwas wärmer machen würden, aber der Stoff war so dünn, dass er nicht einmal den Wind abzuhalten schien.
»Hast du das Insulin?«, fragte ich.
»Ja, hab ich, Liebes. Mach dir keine Sorgen.«
Während die Gruppe Vorbereitungen für die Suche traf, hielt ich mich dicht bei Tante Lauren. Das schien ihr zu gefallen, denn sie legte mir den Arm um die Schultern und rieb sie, als versuchte sie, mich warm zu halten. Ich biss die Zähne zusammen und ließ sie machen.
»Gut, Chloe«, sagte Dr. Davidoff, als alle anderen so weit waren, »jetzt zeig uns, wo wir nachsehen sollen.«
Der wirkliche Treffpunkt war das Lagerhaus, das dem Fabrikgebäude am nächsten stand. Ich musste also versuchen, sie so weit wie möglich von ihm weg zu halten, nur für den Fall, dass Simon und Derek gerade jetzt beschlossen hatten, vorbeizukommen und sich nach uns umzusehen.
»Wir waren zuerst in dem Lagerhaus, wo Sie uns aufgespürt haben und mir das da passiert ist«, sagte ich und hob den verletzten Arm.
»Wo du aus dem Fenster geklettert bist?«, hakte Dr. Davidoff nach.
Ich nickte. »Ich habe nicht gleich gemerkt, dass ich mich verletzt habe, also sind wir losgerannt. Derek wollte, dass wir so weit wie möglich von dem Lagerhaus wegkommen. Ich hatte das Gefühl, dass wir endlos rennen, um diese ganzen Lagerhäuser rum, weil wir ein gutes Versteck gesucht haben. Ich habe nicht so genau auf den Weg geachtet. Es war dunkel, und ich habe kaum etwas sehen können. Derek konnte sehen, also bin ich ihm einfach nachgelaufen.«
»Der Werwolf mit seiner verbesserten Nachtsicht«, murmelte Dr. Davidoff.
»Irgendwann haben wir eine Stelle gefunden, von der Derek gesagt hat, sie gäbe ein gutes Versteck ab und wir sollten dort bleiben, bis Sie alle wieder
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