Seelennacht
»Derek sagt, das ist dein Ersatzbeutel.«
»Mein finsteres Geheimnis ist also gelüftet.«
»Ich hab nicht gewusst, dass es ein Geheimnis ist.«
»Ist es eigentlich auch nicht. Ich brüll’s einfach nur nicht in der Gegend herum.«
Mit anderen Worten, wenn andere Leute gewusst hätten, dass er eine chronische Krankheit hatte, dann hätten sie ihn vielleicht anders behandelt. Er hatte die Sache unter Kontrolle, also brauchte niemand sonst davon zu wissen.
»Ersatz?«, fragte Tori. »Du meinst, er hat den gar nicht wirklich gebraucht?«
»Anscheinend nicht«, murmelte ich.
Simon sah verwirrt von ihr zu mir, dann begriff er. »Ihr habt gedacht …«
»Wenn du deine Medikamente nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden kriegst, fällst du tot um?«, ergänzte ich. »Nicht ganz, aber fast. Du weißt schon, die gute alte ›lebensgefährliche Krankheit muss rechtzeitig behandelt werden‹-Methode der Spannungssteigerung. Funktioniert offensichtlich immer noch.«
»Ganz schön enttäuschend, was?«
»Und wie. Jetzt haben wir die ganze Zeit damit gerechnet, dich hier an der Schwelle des Todes anzutreffen, und du keuchst nicht mal.«
»In Ordnung. Medizinische Notfallsituation, zweiter Take.« Er sprang auf, taumelte und stürzte. Dann hob er matt den Kopf. »Chloe? Bist du das?« Er hustete. »Hast du mein Insulin mitgebracht?«
Ich legte ihm den Beutel in die ausgestreckte Hand.
»Du hast mir das Leben gerettet«, teilte er mir mit. »Wie kann ich es dir jemals vergelten?«
»Immerwährende Knechtschaft hört sich gut an. Ich esse meine Eier am liebsten als Rührei.«
Er hob den Apfel hoch. »Würdest du auch ein Stück angeschlagenes Obst nehmen?«
Ich lachte.
»Ihr seid irgendwie komisch«, bemerkte Tori trocken.
Simon setzte sich auf die Kiste neben meiner. »Stimmt schon. Wir sind irgendwie komisch und absolut uncool. Dein Status stürzt allein dadurch total ab, dass du dich in unserer Nähe aufhältst. Du könntest also …«
»Chloe?«, unterbrach Derek. »Was macht dein Arm?«
»Ihr …?« Simon fluchte leise. »Du hast wirklich den Bogen raus, mich hier zu blamieren. Erst lass ich sie fast verhungern. Jetzt ihr Arm.« Er wandte sich an mich. »Wie geht’s dem?«
»Bestens. Genäht und verbunden.«
»Wir sollten uns das ansehen«, sagte Derek.
Simon half mir beim Ausziehen der Jacke.
»Ist das alles, was du anhast?«, fragte Derek. »Wo ist dein Pullover?«
»Die haben uns keine Zeit gelassen, irgendwas zu holen. Ich habe Geld, ich kaufe mir einen.«
»Zwei«, sagte Simon. »Wird eiskalt, sobald die Sonne mal weg ist. Letzte Nacht musst du ja ein Eiszapfen gewesen sein.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Da hatte ich andere Probleme.«
»Ihre Tante und Rae«, bemerkte Tori.
»Dazu kommen wir noch«, sagte ich, als Simon mich fragend ansah. »Wir haben ja wohl alle ziemlich viel zu erzählen. Fangt ihr zwei mal an.«
[home]
19
A lso von Anfang an«, begann Derek, während er sich auf eine Kiste setzte. »Als wir dich das letzte Mal gesehen haben, bist du mit Rae zu diesem Lagerhaus gerannt. Unser Ablenkungsmanöver hat funktioniert, und wir sind da rausgekommen, aber danach konnten wir eine ganze Weile nicht zurück – die hätten ja noch da sein können. Als wir’s dann wieder dorthin geschafft hatten, wart ihr beide weg.«
»Rae hat mich überredet zu gehen.« Sie hatte erzählt, Simon hätte mich mit keinem Wort erwähnt, als sie mit ihm allein gewesen war, hätte sich einzig und allein um seinen Bruder Sorgen gemacht. Ich wusste inzwischen, dass das nicht wahr gewesen war. Sie hatte gewusst, dass es mich treffen würde, vielleicht genug, dass ich mit ihr von dort wegging, und es war mir peinlich, dass ihr Plan funktioniert hatte. »Sie … sie hat alles Mögliche gesagt. Sie hat mich überredet, wegen meinem Arm zu Tante Lauren zu gehen, und dann …« Ich erzählte ihnen von den beiden Tagen, die darauf gefolgt waren, Schritt für Schritt und Entdeckung um Entdeckung. Als ich schließlich fertig war, saßen sie alle schweigend da, sogar Tori.
»Dann sind Brady und Liz also tot«, sagte Simon irgendwann. »Und dieses andere Mädchen auch, nehme ich an – die, die sie schon früher verlegt haben.«
»Amber«, sagte Tori. »Ihr Name war Amber.«
Ich nickte. »Sie hat auf dieser Liste gestanden. Alle drei.«
Wieder ein Moment der Stille.
»Rae und Tante Lauren sind noch dort«, sagte ich schließlich. »Ich weiß, Rae hat uns verpfiffen, und meine Tante hat
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