Seelennacht
unserer Flucht wären wir jetzt geradewegs in eine Falle gerannt. Alle wären gefangen genommen worden … außer mir natürlich, denn ich bin die Heldin. Ich wäre klug genug gewesen, der Gefangennahme zu entgehen, und hätte als Nächstes einen kühnen Plan zur Rettung meiner Freunde entwickelt. Leicht wäre es nicht geworden. Ruhig schon gar nicht. Tori und Simon hätten mit Magie einen ganzen Häuserblock hochgejagt. Derek hätte ein paar Lastwagen in die Gruppe unserer Verfolger geschleudert. Ich hätte von einem praktischerweise in der Nähe gelegenen Friedhof eine Legion von Zombies rekrutiert.
Aber so cool all das auf der Leinwand auch gewesen wäre, im Augenblick war ich viel eher in der Stimmung für ein unauffälliges Verschwinden, und genau das wurde es auch. Die Mitglieder der Edison Group bewegten sich nicht aus dem Fabrikhof heraus.
Wir gingen mindestens drei Meilen weit zu Fuß. Als wir weit genug von der Fabrik entfernt waren, um uns nicht mehr verstecken zu müssen, führte Derek uns in das Geschäftsviertel auf der anderen Seite des Wohngebiets, wo vier Teenager auch an einem Schultag nicht sehr auffallen würden.
»Ich weiß schon, ihr steht auf diesen ganzen dramatischen Heimlichkeitenkram«, sagte Tori irgendwann, »aber können wir nicht auch einfach ein Taxi nehmen?«
Derek schüttelte den Kopf.
Ich räusperte mich. »Ein Taxi wäre wahrscheinlich viel zu riskant, aber wenn es eine kürzere Route an den Ort gäbe, wo wir hingehen – meine Füße würden sich auch drüber freuen.«
Derek blieb stehen. Ich rannte gegen seinen Rücken – nicht zum ersten Mal, denn er bestand darauf, unmittelbar vor mir zu gehen. Ich war ihm schon die ganze Zeit ständig auf die Fersen getreten und hatte Entschuldigungen gemurmelt. Aber wenn ich langsamer ging, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen, raunzte er mich an, ich sollte nicht trödeln.
»Wir sind fast da«, sagte Simon.
Er ging neben mir – auf der Straßenseite, fast so dicht bei mir wie Derek. Unter normalen Umständen hätte ich mich kaum darüber beschwert, Simon in meiner unmittelbaren Nähe zu haben, aber jetzt hatte ich den merkwürdigen Eindruck, abgeschottet zu werden.
Als wir uns wieder in Bewegung setzten, versuchte ich mit Tori, die hinter uns ging, zurückzufallen, aber Simon legte die Finger unter meinen Ellbogen und manövrierte mich wieder an Ort und Stelle.
»Okay«, sagte ich. »Irgendwas stimmt hier nicht. Wozu die wandelnde Barriere?«
»Sie beschützen dich«, sagte Tori. »Schirmen dich gegen die große böse Welt ab.«
Keiner der beiden Jungen sagte ein Wort. Was es auch war, vorläufig waren sie nicht bereit, mit der Sprache herauszurücken.
Unser Ziel stellte sich als eine Art verlassenes Industriegebäude heraus, das in einer so heruntergekommenen Gegend lag, dass sogar die Gangs und die Obdachlosen einen Bogen um sie zu machen schienen.
Gerade als wir hineingehen wollten, hörte ich Liz nach mir rufen. Sie stand neben der türlosen Eingangsöffnung, als könne sie die Schwelle nicht überqueren. Ich erkundigte mich, ob es einen magischen Grund gab, der sie draußen hielt. Sie sagte, das sei es nicht, sie wollte einfach nur mit mir reden. Also winkte ich Derek und Simon, dass sie schon mal in das Gebäude vorgehen sollen, und erklärte, ich müsse ein paar Worte mit Liz wechseln.
Seitdem wir anderen vier wieder zusammen waren, war Liz still gewesen und hatte sich außer Sichtweite gehalten. Jetzt ging sie auf der kahlen Erde vor dem Gebäude in die Hocke, um einen violett und orangefarben gemusterten Strumpf hochzuziehen.
»Weißt du, ich hab diese Socken ja wirklich gemocht. Aber wenn ich die jetzt noch einen einzigen Tag lang ansehen muss, verbringe ich die Ewigkeit lieber barfuß.« Sie versuchte zu lächeln, aber nachdem sie sich einen Moment lang abgemüht hatte, gab sie es auf und richtete sich wieder auf. »Ich gehe jetzt. Du brauchst mich nicht mehr.«
»Nein, ich … ich meine, natürlich, wenn du das willst, aber …«
»Das ist jetzt ganz falsch rausgekommen. Ich sollte einfach …« Sie zog den Fuß hoch und versuchte, die Socke wieder glatt zu ziehen. »Ich sollte gehen. Aber ich komme wieder.«
»Ich habe dein Kapuzenshirt nicht. Wir werden uns einen Treffpunkt überlegen müssen oder so was.«
Sie lachte, jetzt klang es beinahe echt. »Nicht noch mehr Treffpunkte. Ich finde dich. Ich finde dich immer. Es ist einfach … es könnte eine Weile dauern. Ich habe paar Sachen zu
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