Seelennacht
Derek«, sagte ich.
»Vergesst es. Sie kommt nicht mit.«
»Okay.« Ich stand auf und klopfte mir den Dreck von den Jeans. »Kommst du, Tori?«
Als Simon aufstand, glaubte ich zunächst, er wollte mich aufhalten. Stattdessen folgte er mir zur Tür. Tori holte uns ein, und als wir gerade den Nachbarraum betraten, kam Derek hinter uns hergetrabt und packte mich so fest am Arm, dass ich fast gefallen wäre.
Der Schmerz ließ mich zusammenfahren, und ich schob seine Finger weg. »Falsche Seite.«
Als ihm klarwurde, dass er meinen verletzten Arm erwischt hatte, ließ er mich hastig los.
Eine lange Minute des Schweigens, dann sagte er: »Schön«, und drehte sich zu Tori um. »Drei Bedingungen. Erstens, ganz egal, was du für ein Problem mit Chloe hast, komm drüber weg. Wenn du wieder auf sie losgehst, bist du draußen.«
»Verstanden«, sagte Tori.
»Zweitens, komm über Simon hinweg. Er ist nicht interessiert.«
Sie wurde rot und schnappte: »Ich glaube, darauf bin ich auch schon von selbst gekommen. Und Nummer drei?«
»Komm mal über dich selbst hinweg.«
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20
N achdem diese unerfreuliche Sache abgehakt war, war ich – zum ersten Mal in meinem Leben – bei der Aussicht, einkaufen zu gehen, aufgeregt. Ich konnte es kaum erwarten, aus diesem feuchten, dunklen, kalten Loch herauszukommen, das mich viel zu sehr an die von mir so gehassten Keller erinnerte, und etwas Abstand zwischen mich und diese Leiche zu legen – allein zu wissen, dass sie da war, machte mich nervös. Warme Kleidung, richtiges Essen und ein richtiges Bad, mit Seife, fließendem Wasser und einer Toilette. Fragt mich bloß nicht, wie ich mir im Hinblick auf die körperlichen Bedürfnisse bisher beholfen hatte – man redet wirklich besser gar nicht drüber.
»Wenn wir weit genug von hier wegkommen, dass es nicht mehr gefährlich ist, würde ich gern versuchen, meine Bankkarte zu verwenden«, sagte ich. »Wahrscheinlich ist das Konto gesperrt, aber es ist einen Versuch wert. Wir können mehr Geld auf jeden Fall brauchen.«
»Wir haben welches«, sagte Derek.
»Okay. Wenn ihr glaubt, es ist zu riskant …«
»Du kommst nicht mit, Chloe. Wir gehen. Du bleibst hier.«
»Wo du sicher bist«, stichelte Tori. »Wir wollen ja nicht, dass du dir einen Fingernagel abbrichst, wenn du deine Karte verwendest.«
»Tori …«, sagte Derek, während er sich zu ihr umdrehte. »Wir haben dich gewarnt. Lass sie in Frieden.«
»Das war eigentlich eher an deine Adresse gerichtet, Wolfsjunge.«
Seine Stimme fiel noch weiter ab, wurde fast zu einem Knurren. »Und nenn mich nicht so.«
»Bitte. Können wir damit aufhören?« Ich schob mich zwischen die beiden. »Wenn ich euch inzwischen noch nicht bewiesen habe, dass ich vorsichtig bin und auf mich aufpassen kann …«
»Doch, hast du«, beschwichtigte Simon. »Das hier ist das Problem.« Er gab mir einen Zeitungsausschnitt. Ich las die Überschrift und setzte mich dann langsam wieder auf die Kiste, den Blick wie gebannt auf den Rest des Artikels gerichtet.
Mein Vater bot eine halbe Million Dollar Belohnung für Informationen, die zu meiner unversehrten Rückkehr nach Hause führen würden. Es war ein Foto von mir abgedruckt, das Schulfoto vom letzten Jahr. Und eins von ihm, das aussah, als wäre es bei einer Pressekonferenz entstanden.
In der Nacht, nachdem ich in der Schule einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte, war mein Vater im Krankenhaus aufgetaucht, um mich zu besuchen. Er war unmittelbar davor aus Berlin nach Hause geflogen und hatte fürchterlich ausgesehen, erschöpft und besorgt und unrasiert. Auf dem Zeitungsfoto sah er noch schlimmer aus – Ringe unter den Augen, Furchen im Gesicht.
Ich hatte keine Ahnung, was die Edison Group meinem Vater über mein Verschwinden erzählt hatte. Sie mussten irgendeine Geschichte parat gehabt haben, vielleicht, dass ich verlegt worden war und er mich vorläufig nicht besuchen konnte. Sie hatten natürlich vorgehabt, mein Entkommen geheim zu halten, waren aber nicht schnell genug gewesen. Klar war auch, dass sie ihre eigene Rolle bei alldem zu vertuschen versuchten. Den Schwestern und meiner Mitbewohnerin Rachelle Rogers zufolge – die man für den Artikel interviewt hatte – war ich weggelaufen.
Glaubte mein Dad das? Wahrscheinlich. Laut einem Zitat in dem Artikel hatte er gesagt, er habe in meiner Situation falsch reagiert – er habe bei mir eine Menge falsch gemacht – und wünschte sich verzweifelt, er würde die Chance
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