Seelennacht
hab mir überlegt, es könnte interessant sein, so eine Art gezeichnetes Tagebuch zu führen. Über uns. Was gerade passiert.«
»Wie ein Comic?«
»Das Wort hab ich vermieden, weil ich mich nicht anhören will wie ein kompletter Freak. Aber yeah, wie ein Comic. Nur für uns natürlich. Ein Projekt, mit dem wir uns vielleicht ein bisschen ablenken können. Auf dem Papier würde es sehr viel cooler rüberkommen, als es sich anfühlt, wenn man grade mittendrin steckt.« Er nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche Cola light und schraubte sie langsam wieder zu. »Du könntest mir dabei helfen, wenn du Lust hast. Drehbuchschreiben und Storys für Comics entwerfen, das ist gar nicht so sehr unterschiedlich.«
»Wie ein Film, der in lauter Standbildern erzählt wird.«
»Genau. Mit dem Schreiben bin ich nicht so gut. Ich weiß schon, das hier ist eine wahre Geschichte, es ist nicht so, als ob man was erfinden müsste, aber ich bin hoffnungslos, wenn ich entscheiden muss, was reinkommt und was man weglassen kann.«
»Dabei könnte ich helfen.«
»Prima.« Er blätterte zu der Seite hinter der Zeichnung von mir, und ich sah ein paar flüchtige Skizzen. »Ich hab mich gefragt, wo man anfangen könnte …«
Die nächsten paar Stunden verbrachten wir damit, dass ich Handlungsstränge entwickelte und Simon zeichnete. Als ich zu gähnen begann, klappte er den Block zu.
»Schlaf ruhig. Wir haben noch fünf Stunden Fahrt vor uns und jede Menge Zeit, wieder ranzugehen, wenn wir mal bei Andrew sind.«
»Können wir bei ihm unterkommen?«
Simon nickte. »Er hat genug Platz. Er ist allein dort – keine Frau und keine Kinder. Wir können bei ihm schlafen, gar kein Problem.« Er schob den Block wieder in den Rucksack und zog den Reißverschluss zu. »Es gibt da noch was, das ich mir überlegt habe. Ich weiß, das ist wirklich kein besonders guter Zeitpunkt, aber wenn wir erst mal dort sind, habe ich gedacht, du und ich, wir könnten vielleicht …«
Ein Schatten ragte über uns auf.
Simon machte sich nicht einmal die Mühe aufzusehen. »Ja, Derek?«
Derek beugte sich über den Sitz, eine Hand auf der Lehne, um sich in dem schaukelnden Bus abzustützen. Er wirkte nervös, fast besorgt.
»Wir sind demnächst in Syracuse.«
»Okay.«
»Ich brauche irgendwas zu essen. Ich bin am Verhungern.«
»Klar. Ich hatte sowieso gedacht, wir steigen schnell aus und besorgen uns was zum Abendessen.«
»Kann ich nicht. Nicht grade hier.« Simon sah ihn verwirrt an, und Derek senkte die Stimme. »Syracuse?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ausgerechnet am Busbahnhof rumhängen.«
»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte ich.
»Nee.« Simon sah zu seinem Bruder auf. »Ich besorge was Essbares, okay?«
Derek zögerte. Er wirkte nicht besorgt, nicht wirklich, eher … unglücklich. Weil Simon sauer auf ihn war?
Ich dachte darüber nach, während ich verfolgte, wie Derek zu seinem Sitz zurückschlingerte. Simon und Derek waren nicht einfach nur Pflegebrüder – sie waren beste Freunde. Aber nach allem, was Simon gesagt hatte, hatte er offensichtlich noch andere Freunde, Teammitglieder, Freundinnen … ich bezweifelte, dass Derek irgendetwas dergleichen hatte. Für ihn gab es nur Simon.
War das der Grund dafür, dass er mich loswerden wollte? Es klang logisch, aber vom Gefühl her passte es nicht. In Lyle House hatte Derek nie den Eindruck gemacht, als wäre er eifersüchtig, wenn Simon seine Zeit mit mir verbrachte. Er war einfach gegangen und hatte irgendetwas anderes getan. Wenn einer von beiden dem anderen folgte, dann war es meist Simon.
Vielleicht war er nicht eifersüchtig, vielleicht fühlte er sich nur ignoriert?
Diese Frage beschäftigte mich immerhin so sehr, dass ich mich bei dem Zwischenhalt in Syracuse erbot, Derek sein Abendessen zu bringen, während Tori und Simon sich die Beine vertraten.
Ich wollte eigentlich vorschlagen, dass Derek und ich doch die Plätze tauschen könnten, aber als ich neben ihm stand, starrte er wie gebannt zum Fenster hinaus.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Er drehte sich so abrupt zu mir um, als hätte ich ihn aufgeschreckt, nickte dann und nahm sein Abendessen mit einem gemurmelten Danke entgegen.
Ich schob mich auf den leeren Nebensitz. »Habt ihr mal hier in der Gegend gewohnt?«
Er schüttelte den Kopf und sah wieder zum Fenster hinaus. Ich fasste das als einen Hinweis darauf auf, dass ihm nicht nach Konversation war, und wollte gerade den Platzwechsel
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