Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
konnten.
Sie wollte weg.
Doch ihre Bewegungen waren unkoordiniert, die Beine gehorchten ihr nicht. Eine Hand packte sie schmerzhaft am Handgelenk und riss sie zurück, die andere presste sich fest auf ihren Mund. Alles begann sich wild zu drehen, ihr wurde übel. Der Boden schien auf sie zuzustürzen und sich dann in rasendem Tempo wieder von ihr zu entfernen. Mal war alles um sie her blau, mal grün, dann violett. Was war das nur für ein Scheißzeug, das Falco ihr da untergejubelt hatte!
»Du wirst sterben – langsam. Nutze die Zeit um über dich nachzudenken!«, mahnte die Stimme, die von weit her zu kommen schien, nachdrücklich.
Das Messer drang tief in ihre Seite ein und die Knie knickten unter ihrem Körper weg. Langsam rutschte sie an der Wand entlang auf den Boden. Es tat gar nicht so weh, wie sie befürchtet hatte. Die Gestalt beugte sich über sie und stach wieder zu, immer wieder – sie zählte nicht mit.
Der enge Flur füllte sich mit dem metallischen Geruch nach frischem Blut. Ihrem Blut. Warm konnte sie es um sich herum spüren. Die Gedanken verschwammen.
Du stirbst. Einen Moment lang war sie belustigt. Es war einfach lächerlich in einem Flur zu sterben – auf jeden Fall nicht das, was sie erwartet hatte. Sie wartete auf den finalen Stoß, doch der kam nicht. Das Türschloss schnappte – sie war wieder allein!
Vielleicht kann man mir noch helfen, fiel ihr ein, wenn jemand käme, könnte man mich ins Krankenhaus bringen und dort würden sie die Stiche einfach wieder zunähen.
Sie musste nur die Tür erreichen.
Der Boden unter ihr war feucht und glitschig. Sie mobilisierte alle Kräfte und schob sich auf die Tür zu. Sie keuchte vor Anstrengung – die Luft wurde knapp. Quälend langsam kam sie voran.
Ich könnte um Hilfe rufen, schoss ihr ein neuer hoffnungsvoller Gedanke durch den benebelten Kopf.
Doch der Schrei geriet nur zu einem heiseren Krächzen.
Sie fror erbärmlich.
Mit größter Anstrengung gelang es ihr mit dem rechten Fuß gegen die Tür zu treten. Zufrieden lauschte sie dem dumpfen Geräusch nach und wartete. Doch ihre sonst so aufmerksamen Nachbarn schienen nichts gehört zu haben. Für einen zweiten Versuch fehlten ihr Kraft und Entschlossenheit.
Du verblutest in deinem eigenen Flur. Stirbst allein!
Wie lange konnte es dauern, bis alles Blut aus ihr herausgelaufen war? Minuten, Stunden? Der Schatten wollte, dass sie ihre verbliebene Zeit zum Nachdenken nutzte – würde er sie retten, wenn sie das richtige dachte? War das der Schlüssel zur Rückkehr ins Leben?
Nein – wahrscheinlich nicht. Sie war allein.
Denk nach! Denk nach!
Müde schloss sie die Augen und wartete auf das gleißende, helle Licht am Ende des Tunnels.
Das sonderbare Geräusch hinter der Wohnungstür im Erdgeschoss ließ ihn zusammenzucken. Er zögerte.
Vorsichtig trat er direkt an die schwere Holztür heran und lauschte. Doch in der atemlosen Stille konnte er nur sein eigenes Blut rauschen hören.
Wie beim Schlüssellochgucken ertappt, sah er sich verstohlen um und trat dann wieder einen Schritt zurück um seinen mühevollen Aufstieg in den vierten Stock fortzusetzen, da hörte er es wieder. Ein Scharren, oder Röcheln.
Eilig wandte er sich wieder um und klopfte gegen die Tür.
»Kindchen, ist mit Ihnen alles in Ordnung?«
Als keine Antwort kam, versuchte er es ein zweites Mal.
»Brauchen Sie vielleicht Hilfe?« Das kam schon lauter und eindringlicher. »Einen Arzt?«
Wieder war kein Laut aus der Wohnung zu vernehmen.
Was bin ich doch für ein alberner alter Opa. Samuel Engel sah peinlich berührt auf seine Schuhspitzen.
Dabei bemerkte er die dunkle, zähe und klebrige Flüssigkeit, die durch den Türspalt suppte und nur noch teilweise vom Fußabtreter aufgehalten werden konnte.
»Blut!«, flüsterte Samuel Engel schockiert. »Das ist Blut!«
2
Seufzend ließ sie sich auf ihrem Stammplatz nieder. Ihr Atem ging rasselnd und pfeifend. Die feisten Unterarme stützte sie auf einem dicken Sofakissen ab, damit die Gelenke nicht so schnell schmerzten. Eine Packung ihrer Lieblingskekse mit der leckeren Schokoladenfüllung und eine Thermoskanne Kaffee mit viel gehaltvoller Kondensmilch hatte sie auf einem Hocker neben sich stehen. Wenn der mobile Pflegedienst kam, würde sie schnell eine Decke darüber werfen, um sich nicht das ewige Gemecker der Schwester über ihren ungesunden Lebenswandel anhören zu müssen. Schließlich war sie alt genug um zu wissen, was ihr bekam und was nicht.
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