Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
Bewegung, Obst und Salat waren moderner Kram für die jungen Leute, die sich gerne so einen Quatsch einreden ließen. Sie vertrug das rohe Zeug nicht und außerdem - wer war denn letzte Woche gestorben? Die vegetarische Frischluftfanatikerin aus dem Nachbarhaus, die schon immer ausgesehen hatte wie eine verschrumpelte Möhre. Und die war immerhin mehr als zehn Jahre jünger gewesen als sie. Das war wohl Beweis genug, fand sie, und der Gedanke stimmte sie ausgesprochen zufrieden.
Luise Markwart war eine Institution.
An ihr kam keiner vorbei.
Ihre listigen, grauen Augen unter der gelockten Pudelfrisur huschten eilig die Straße entlang – ihr Morgencheck. Amüsiert stellte sie fest, dass der junge Herr Menzel wohl mal wieder zu spät zur Arbeit kommen würde, sein Auto stand noch vor dem Haus. Bestimmt würde er gleich aus der Tür stürzen, das Hemd aus der Hose gerutscht, die Krawatte nur lose umgehängt, das Jackett über der linken Schulter, den Schlüssel im Mund und die Tasche in der rechten Hand – wie mindestens dreimal pro Woche. Der würde sicher bald seinen Job verlieren. Luise Markwart grinste voll boshafter Zufriedenheit.
Ihre Augen registrierten einen Falschparker vor dem CITY Hotel. Während sie mit der linken Hand nach dem schnurlosen Telefon unter dem Kissen tastete, überlegte sie: Sollte sie gleich die Polizei verständigen oder lieber noch ein bisschen warten? Vielleicht würde sie herausfinden, wohin der Fremde gegangen war. Sie beschloss, bis sie zu einer Entscheidung gekommen war, die Nummer des Wagens in ihrem Ereignisheft zu notieren, fischte blind nach der schmalen Kladde über deren Außeneinband sie einen Stift geklemmt hatte. Ordentlich schrieb sie das Datum auf eine neue Seite, unterstrich es zweimal und vermerkte das Autokennzeichen. Gehässig kichernd schob sie das Heft wieder unter das Kissen zurück und dachte weiter über den geheimnisvollen Fahrer nach. Vielleicht war es ein Besucher der jungen Frau Salm, deren Mann zurzeit in Norwegen auf einer Großbaustelle arbeitete. Das wäre doch eine wirklich interessante Neuigkeit. In aller Ausführlichkeit begann sie sich das Gespräch mit dem heimgekehrten Ehegatten auszumalen: Wie schön, dass Sie wieder zurück sind, Ihre Frau wird sich sehr freuen, und wie gut, dass Sie ihr regelmäßig einen Freund als Beistand geschickt haben, das hätte bestimmt nicht jeder bedacht, wo die arme Frau sich doch gerade nachts so ängstigte ...
Sie war noch mit dem Abwägen des Für und Wider einer Anzeige beschäftigt, als ein Streifenwagen mit Blaulicht in die Straße einbog. Luise Markwart lehnte sich weit aus dem Fenster.
Der Streifenwagen hielt vor dem übernächsten Haus. Schnell rekapitulierte sie die Namen der Bewohner. Womöglich würde jetzt einer von ihnen verhaftet. Bestimmt dieses kleine Flittchen, obwohl, man konnte nie wissen. Na ja, da konnten die Leute noch so nett sein, in ihre Seelen konnte man schließlich nicht gucken und so manch einer…
Sirenengeheul unterbrach ihre Überlegungen und von einem Moment auf den anderen war in der sonst so ruhigen Gegend die Hölle los. Ein Notarztwagen raste durch die schnurgerade Straße und kam mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Noch bevor die Reifen zu rollen aufgehört hatten, war der Mann, wohl ein Notarzt, aus dem Wagen gesprungen und auf den Hauseingang zugerannt. Ein Rettungswagen folgte und kurze Zeit später parkte auch noch eine dunkle Limousine vor dem Haus.
Gespannt wartete Luise Markwart, was nun passieren würde. Seit Jahren war vor ihrem Fenster nicht mehr so viel los gewesen!
3
Kriminalhauptkommissar Peter Nachtigall sah dem Arzt über die Schulter, der den leblosen Körper gründlich untersuchte.
»Ich denke, sie ist verblutet. Die einzelnen Stiche waren jeder für sich nicht tödlich. Insgesamt hat der Täter sechsmal zugestochen.« Dr. Manz, ein junger Mann mit lockigem, dunklen Haar und unzähligen Fältchen um Augen und Mund, deutete auf einige deutlich sichtbare Verletzungen am Oberkörper des Opfers.
Nachtigall nickte kurz. Was für ein einsamer Tod. Ein so junges Mädchen liegt hilflos da und spürt, wie langsam das Leben aus ihr herausströmt. Muss sich dem Tod überlassen. Ihn schauderte und er war deprimiert. Wieder ein Mordopfer im Alter seiner eigenen Tochter. Unerwünschte Bilder einer Mordserie in Cottbus vom vergangenen Herbst schoben sich in sein Bewusstsein, grausige Erinnerungen an verstümmelte Körper und tiefstes Leid. Mit einer heftigen Bewegung
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