Seelenrächer
zu nicken begann, »natürlich. Weißt du, was? Wenn wir auch nur einen Moment nachgedacht hätten, dann wäre uns das schon viel früher eingefallen.«
»Wir sind Polizisten. Da ist es kein Wunder, wenn wir zuerst an Krankhaus und Leichenhalle denken. Das ist ganz normal.« Mit diesen Worten richtete Quinn sich auf, ließ die Zigarette fallen und trat sie mit dem Absatz aus. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und rief Patrick Maguire an.
»Paddy, hier ist Moss«, sagte er. »Hör zu, hast du mit Eva gesprochen?«
»Heute noch nicht«, antwortete Maguire. »Natürlich habe ich euch beide gestern gesehen, und weil ich wissen wollte, ob mit ihr alles in Ordnung ist, habe ich sie gestern Abend noch angerufen.«
»Du hast mit ihr telefoniert?« Quinn presste das Telefon noch ein wenig fester an sein Ohr.
»Ja, Moss. Ich glaube, es war kurz vor zehn. Ich habe mir Sorgen um sie gemacht. Du weißt ja selbst, in welchem Zustand sie gestern war.«
Für einen Moment legte Quinn die Hand über den Hörer und erklärte an Doyle gewandt: »Paddy hat sie gestern Abend kurz vor zehn angerufen.« Doyle warf einen Blick auf seine Uhr. »Wie war sie drauf, Pat?«, fragte Quinn. »Als du mit ihr gesprochen hast?«
»Es ging ihr einigermaßen gut, würde ich sagen. Du weißt schon, in Anbetracht des Tages und der ganzen Umstände. Allerdings mache ich mir schon seit Längerem Sorgen um sie. Das habe ich dir ja gesagt: Die letzten paar Male, die ich mit ihr gesprochen habe, strahlte sie eine Hoffnungslosigkeit aus, die ich vorher nicht an ihr kannte. Ich habe es auf die Tatsache zurückgeführt, dass der erste Jahrestag nahte und …«
»Und ihr Ehemann nicht in der Lage war, den Mörder ihres Sohnes zu finden«, sprach Quinn den Satz für ihn zu Ende.
»Ja, du hast wohl recht, so irrational das auch sein mag.«
»So irrational ist das gar nicht. Ich bin Polizist, Pat. So wie Doyle. Ihr Mann und ihr Onkel. Wir haben es zwar fertiggebracht, ihren Jugendfreund vor Gericht zu bringen, aber was den Mörder ihres Sohnes angeht, haben wir versagt. Sie kann einfach nicht anders, als diese beiden Ereignisse einander gegenüberzustellen.«
»Du darfst ihr deswegen nicht böse sein, Moss«, meinte Maguire. »Sie gibt dir nicht bewusst die Schuld, und ich glaube auch gar nicht, dass die Situation so eindeutig ist, wie du meinst. Aber jetzt sag mir lieber, wie es ihr heute geht. Ich wollte sie eigentlich schon längst anrufen, bin aber gerade hier im Mountjoy-Gefängnis beschäftigt.«
Quinn warf einen Seitenblick zu Doyle hinüber, der immer noch an der Wand des Leichenschauhauses lehnte, die Hände tief in den Taschen vergraben. »Das ist genau das Problem, Patrick«, antwortete Quinn. »Sie ist verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Ja, und nach allem, was du mir gerade erzählt hast, warst du vermutlich der Letzte, mit dem sie gesprochen hat. Wir sind gerade im Leichenschauhaus und …«
»Um Gottes willen, sie ist doch nicht etwa …«
»Nein, aber wir hatten Angst, sie könnte es sein. Am Spencer Dock wurde heute Morgen eine Leiche aus dem Wasser gezogen, auf die ihre Beschreibung passte. Ich glaube, sie ist auf dem Friedhof, Paddy. Was meinst du?«
Maguire überlegte kurz. »Ja«, antwortete er dann, »wenn sie nicht zu Hause ist, findest du sie am ehesten dort.«
»Das war auch mein Gedanke. Gut, Kumpel, vielen Dank. Wir hören uns.«
»Mossie?«
»Ja?«
»Vergiss nicht, mich gleich anzurufen – ich meine, wenn du sie gefunden hast. Sag ihr, dass sie sich jederzeit bei mir melden kann, wenn sie reden möchte. Ich kann meine Termine verlegen.«
Im Besucherraum von Mountjoy schaltete Patrick Maguire sein Handy aus. Die Türen wurden entriegelt und, nachdem er in den inneren Bereich getreten war, hinter ihm wieder verriegelt. Eine weitere Tür wurde entriegelt. Maguire nickte dem Wärter kurz zu und steuerte dann auf den Befragungsraum zu, in dem Karl Crame wartete.
Crame hatte die Arme auf den Tisch gestützt. Sie waren vom Handgelenk bis zur Schulter voller Tätowierungen: Schlangen, Frauen, ein dichter Teppich aus Orange, Rot und Blau. Sein Haar war bis auf die Kopfhaut geschoren, und obwohl er erst zweiundzwanzig war, wirkten seine grauen Augen kalt.
»Da bist du ja, ich dachte schon, du kämst gar nicht mehr.«
»Tut mir leid, Karl.« Maguire ließ sich nieder und stellte seine weiche Lederaktentasche zu seinen Füßen ab.
»Hör zu!« Crame packte ihn am Handgelenk. »Ich muss wissen, was du für mich tun
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