Seelenrächer
kommt auf jeden Fall morgen ganz früh und will dann entweder hier bei den Mädchen bleiben oder sie mit zu ihrer Nan nehmen. Deine beiden Brüder haben auch angerufen, Moss, und deine Eltern. Sie haben gesagt, sie lassen dich auf dem Handy in Ruhe, weil sie die Leitung nicht blockieren wollen.«
»Danke, Paddy. Ich bin dir so dankbar, dass du dir die Zeit genommen hast.«
»Du siehst erschöpft aus. Du solltest versuchen, wenigstens für ein paar Minuten die Augen zu schließen.«
Quinn strich sich mit der Handfläche über sein stoppeliges Kinn.
»Ich kann jetzt nicht schlafen, Patrick, dafür ist keine Zeit. Ich habe einfach keine Zeit zum Schlafen.«
Während er die Akte aufschlug, rang er nach Luft, als fiele ihm plötzlich das Atmen schwer. Irgendwie hatte er das Gefühl, für seine Frau nach Luft zu ringen. Erst am Vorabend hatte er das Geständnis gelesen, das Conor Maggs abgelegt und das letztendlich zu nichts geführt hatte, und nun saß er hier schon wieder mit dieser Akte.
Quinn konnte noch immer die Stimme hören – wie ein Rasseln in seinem Kopf. Er sah genau vor sich, wie Connor Maggs auf der Anklagebank saß und vor lauter Pathos feuchte Augen bekam, während dem Richter die Fotos vorgelegt wurden, die im Krankenhaus gemacht worden waren, nachdem Doyle sich Maggs vorgenommen hatte.
Quinn ging die ersten paar Seiten der Akte durch. Er war fest entschlossen, die Aussagen so genau unter die Lupe zu nehmen, als läse er sie zum ersten Mal. Vielleicht verrieten sie ihm ja etwas, das er noch nicht wusste. Die erste stammte von Jimmy Hanrahan, den alle nur »Schüreisen-Jimmy« nannten, weil er mal auf eine alte Frau mit selbigem losgangen war. Er lebte mit seinem Vater in dem alten Haus am Wasser gleich gegenüber dem verfallenen Gebäude, in dem sie Marys Leiche gefunden hatten. Er behauptete, er habe Maggs an jenem Abend mit Mary sprechen sehen, wohingegen Maggs behauptete, sie niemals auch nur zu Gesicht bekommen zu haben.
Plötzlich war die Erinnerung in Quinns Kopf wieder so frisch, dass er die Musik aus den verschiedenen Kneipen herauswehen hörte. Er sah Doyle im Jett O’Carroll’s sein Bierchen schlürfen, und einen Moment später hatte er auch wieder den üblen Gestank in der Nase, den Marys Leiche verströmte, als man sie schließlich fand.
»Was hast du denn da?« Patrick deutete auf die Unterlagen.
»Die Akte zu dem Fall Mary Harrington « , antwortete Quinn. »Ich habe einen weiteren Anruf bekommen, Pat, wieder aus einer Dubliner Telefonzelle. Damit hat der Kerl nun schon zweimal Kontakt mit mir aufgenommen. Beim ersten Mal sprach er von einer tickenden Uhr, beim zweiten Mal von Mary.«
Maguire wirkte verblüfft. »Warum ruft er dich überhaupt an? Und warum erwähnt er Mary?«
»Keine Ahnung.« Quinn zuckte mit den Achseln. »Ich habe Marys Tod immer als Einzelfall betrachtet. Trotzdem hat der Anrufer, wer auch immer er war, von Mary gesprochen und indirekt auch von Maggs. Also muss ich der Sache wohl oder übel auf den Grund gehen.«
Er lehnte sich zurück und legte einen Fuß auf den Tisch. »Hör zu«, fuhr er fort, »es ist spät, und du bist seit einer Ewigkeit hier. Fühl dich bitte nicht verpflichtet, noch länger zu bleiben. Ich bin schließlich ein großer Junge, ich komme schon klar. Ich bleibe einfach hier sitzen und arbeite das Ganze durch. Vielleicht stoße ich ja auf irgendetwas, das ich bisher übersehen habe.«
Da er spürte, dass ihm allmählich die Augen zufielen, durchwühlte er seine Tasche nach einer Zigarette.
»Am Telefon hast du gesagt, Maggs sei gar nicht in Irland, aber jetzt hältst du es doch für möglich, dass er hinter der Entführung steckt?«, fragte Maguire.
Quinn runzelte die Stirn. »Soweit wir wissen, ist er in London.«
»Wer könnte es dann sein?«
»Der, der Mary Harrington umgebracht hat. Und womöglich auch noch fünf andere vermisste Frauen.« Quinn zündete sich die Zigarette an. »Wobei es mir ein Rätsel ist, aus welchem Grund dieser Mann – falls es sich tatsächlich um ein und denselben handelt – nun auch noch meine Frau entführen sollte. Wie du vorhin sehr richtig angedeutet hast: Warum meldet er sich jetzt, nachdem er all die Jahre geschwiegen hat?« Er zog ein Gesicht. »Würde man allerdings mit einem forensischen Psychiater sprechen, würde der vermutlich dagegenhalten, dass sich so ein Serienkiller irgendwann zwangsläufig fragt, wo denn der Spaß bleibt, wenn kein Mensch davon weiß.« Er nahm einen Schluck von
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