Seelenriss: Thriller
überschlug sich, während seine Miene sich schlagartig zu einer hasserfüllten Fratze verzog. »Was hast du hier verloren – warum bist du noch auf? Sag jetzt nicht, du hast deine Medikamente wieder nicht genommen!«
Die Greisin starrte ihn nur verbittert an und folgte ihm wortlos über den Flur in sein abgedunkeltes, stickiges Arbeitszimmer, in dem die Luft stand, als sei seit Wochen nicht mehr gelüftet worden. Aufgebracht fuhr er herum. »Raus hier! Du weißt, dass du diesen Raum nicht betreten darfst! Also verschwinde«, brüllte er sie an der Schwelle zur Tür an. Doch anstatt seiner Aufforderung zu folgen, blieb die Alte im hereinfallenden Flurlicht stehen. »Glaub ja nicht, ich hätte keine Ahnung, was du in diesem Zimmer treibst!« Sie machte einen Schritt in den düsteren Raum hinein, riss eine Liste mit durchgestrichenen Namen von der Wand und warf sie ihm vor die Füße. »Ich habe dich durchschaut! Und selbst wenn du mich ins Heim abschiebst, wird das nichts daran ändern – denn den Teufel kannst du nicht aus dem Haus werfen! In der Hölle wirst du schmoren für das, was du diesen Menschen antust. In der Hölle!«
»Das reicht!« Er drängte sie unsanft aus dem Raum. »Mach, dass du hier wegkommst – oder du bist schneller unter der Erde, als dir lieb ist!« Er stieß sie so heftig in den Flur hinaus, dass die gebrechliche alte Frau zu Boden ging. Als er sie so jammernd daliegen sah, empfand er nichts als Abscheu für sie, und einmal mehr fragte er sich, wie lange er ihr Dasein noch ertragen sollte. Er knallte die Tür seines Arbeitszimmers so fest zu, dass das gerahmte Bild herunterfiel, das neben seinem Laptop und der Spieluhr auf dem Schreibtisch gestanden hatte. Sein Herz setzte einen Schlag aus, und er eilte in panischer Hast zum Schreibtisch. Er betete darum, dass das Bild keinen Sprung hatte, und war umso erleichterter, als es heil geblieben war. Zur Beruhigung zog er die Spieluhr auf und summte leise die Melodie des Kinderlieds. Mit geschlossenen Augen hielt er das Bild fest an sich gedrückt. Es war alles, was ihm von seinem alten Leben noch geblieben war.
39
Sonntagmorgen, 29. Mai …
Lena schlug die Augen auf, und es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie begriff, dass sie sich im Schlafzimmer von Lukas Richter befand. Sie hob die Bettdecke an und stellte fest, dass sie darunter vollkommen nackt war. Aufgeschreckt umklammerte sie die Decke und rieb sich die Augen, während sie im Kopf den vergangenen Abend zu rekonstruieren versuchte. Das Essen, der Wein – sie hatte viel zu viel getrunken. Und dann?
Unverhofft breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, als ihr Blick zur anderen Bettseite huschte. Und da war es wieder: das Gefühl von Glück und einer Leichtigkeit, die ihr in jahrelanger Einsamkeit abhandengekommen war. Sie streckte ihre Hand unter der Decke nach Lukas aus, fand unter dem Deckenberg jedoch nichts als das kalte Laken vor und musste feststellen, dass die andere Bettseite leer war. Lena warf einen Blick auf den Wecker auf dem Nachtschrank. Es war kurz vor sieben und für sie höchste Zeit, aufzustehen. Dass Lukas um diese Zeit schon wach war, wunderte sie allerdings.
Sie schlang die Decke um sich, stieg aus dem Bett und klaubte ihren BH und ihren Slip sowie ihre Jeans und ihr Top vom Boden auf. Schmunzelnd dachte sie daran, wie Lukas sie gestern von der Küche in sein Schlafzimmer getragen hatte, und für einen Moment war ihr, als könnte sie seine Küsse noch immer spüren. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase. Sie zog sich rasch an und hatte die Türklinke bereits in der Hand, da hielt sie plötzlich inne und horchte.
Stimmengewirr drang aus dem Fernseher im angrenzenden Wohnzimmer. Offenbar war der Fernseher doch nicht so kaputt, wie Lukas behauptet hatte, dachte sie noch und lächelte abermals in sich hinein, ehe sich ihre gute Laune beim Betreten des Wohnzimmers schlagartig verflüchtigte. Lena traute ihren Augen kaum, als sie im Wohnzimmer die Rothaarige von neulich erblickte, die in Hot Pants und Lukas’ neongelbem T-Shirt vor dem Fernseher lag und seelenruhig in einer Zeitschrift blätterte.
Lena spürte ein Brennen in der Brust. Die Rothaarige schaute kurz von ihrer Zeitschrift auf. Ihr Blick verriet unverhohlene Neugier, obgleich sie Lenas Anwesenheit nicht weiter zu stören schien. Sie murmelte Lena ein »Guten Morgen« zu, fühlte sich jedoch zu keiner weiteren Erklärung bemüßigt, sondern vertiefte sich wieder in die
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