Seelenriss: Thriller
sie den Weg zu Matthias’ Praxis ein, um endlich das ersehnte Gespräch mit dem Adoptivsohn von Ann-Kathrin Weiß zu führen. Da sie von heute an offiziell vom Fall abgezogen war, schien dieser sechsjährige Junge ihre einzige Chance, mit den Ermittlungen voranzukommen, und Lena setzte ihre ganze Hoffnung in die bevorstehende Befragung.
40
Berlin-Mitte, zwanzig Minuten später …
Als Lena gegen acht Uhr dreißig in seiner Praxis in der Torstraße eintraf, hatte Matthias sie bereits erwartet. Üblicherweise war die Praxis am Wochenende geschlossen, und Matthias hatte nicht nur seinen freien Tag geopfert, sondern Lena wurde auch bewusst, welche Anstrengungen ihr Exfreund unternommen haben musste, damit das Jugendamt diesem Gespräch so kurzfristig zugestimmt hatte. Das rechnete sie ihm hoch an.
Matthias, der aussah, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan, stand in Jeans und frisch gebügeltem Hemd vor Lena und begrüßte sie mit einem süffisanten Lächeln. »Bilde dir bloß nichts darauf ein, ich stehe über den Dingen« sollte dieses Lächeln sagen, mit dem er die gestrige, etwas unglückliche Begegnung mit Lukas herunterzuspielen versuchte. Matthias war noch nie gut in so etwas gewesen, doch Lena ließ ihm seinen Triumph. Es war keinesfalls ihre Absicht gewesen, seine Gefühle zu verletzen, zudem hatte sie im Augenblick wahrlich andere Probleme. Sie folgte Matthias durch die bunt gestrichene Tür ins Sprechzimmer.
Der Junge hockte vor der Truhe mit den Spielsachen und rammte unaufhörlich zwei Matchbox-Autos gegeneinander. Er hatte die Haare zu einem Pilzkopf geschnitten und trug ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt, das ihm mindestens eine Nummer zu groß war. Seine tiefliegenden, ausgesprochen ernst dreinblickenden Augen ließen ihn trotz seiner Pausbacken älter wirken, als er war. Als Lena den Raum betrat, schaute er ausdruckslos auf und senkte den Blick erneut auf die Matchbox-Autos, die er ohne Unterlass gegeneinanderprallen ließ. Er sah angespannt aus, zeigte aber sonst keinerlei Anzeichen von Traurigkeit. Etwas stimmte nicht mit ihm.
»Manuel, das hier ist Lena Peters – ich habe dir von ihr erzählt, sie ist eine gute Freundin und würde dir gerne ein paar Fragen stellen, wenn das für dich okay ist«, erklärte Matthias, während er einen Stuhl heranzog und darauf Platz nahm.
Der Junge gab keine Antwort.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte Lena und lächelte ihn freundlich an.
Manuel nickte, ohne von seinem Spielzeug aufzusehen.
»Hast du viele Autos in deinem neuen Kinderzimmer?«, fragte sie weiter und setzte sich auf den Kindertisch neben der Spielkiste. Doch Manuel reagierte nicht, sondern spielte seelenruhig weiter. Lena hatte nichts anderes erwartet. Man musste kein Genie auf dem Fachgebiet sein, um zu erkennen, dass dieser Junge an einer dissoziativen Bewusstseinsstörung litt, die häufig nach dem Verlust einer nahestehenden Person auftritt. Schlimmstenfalls führte das dazu, dass die Betroffenen in eine Phantasiewelt abdrifteten, in der die schrecklichen Erlebnisse, die das Trauma ausgelöst hatten, noch ungeschehen waren.
Bei allem, was der Junge in seinem kurzen Leben bereits durchgemacht hatte, war das wenig verwunderlich. Darüber hinaus deckte sich ihre Annahme mit dem, was in seiner Patientenakte stand, die Matthias ihr im Vorfeld hatte zukommen lassen. Sie erinnerte sich daran, dass ihr in der Akte gewisse Unstimmigkeiten aufgefallen waren, die sie stutzig machten. Es war nichts Inhaltliches, sondern vielmehr die Tatsache, dass die einzelnen Berichte aus den Therapiesitzungen zum Teil völlig aus dem Zusammenhang gerissen waren, gerade so, als wären einige Seiten vertauscht oder herausgenommen worden. Lena hatte darüber nachgedacht, Matthias darauf anzusprechen, sich schließlich aber dagegen entschieden, um ihn nicht erneut zu verärgern und damit zu riskieren, dass die vereinbarte Befragung mit dem Jungen scheiterte, ehe sie überhaupt begonnen hatte.
»Ich habe früher auch gerne mit Autos gespielt«, fuhr sie unbeirrt fort.
Auf einmal sah der Junge auf. »Du?«, fragte er scheu, »aber du bist doch ein Mädchen.«
Lena lachte auf. »Und Mädchen spielen etwa nur mit Barbie-Puppen?«
»Ja, klar – das weiß doch jedes Kind.«
Sie musste schmunzeln und hatte das Gefühl, sich ihm langsam anzunähern. »Weißt du, ich war anders als die anderen Mädchen. Ich habe mit Autos gespielt, und ich arbeite inzwischen für die Polizei.«
»Du bist eine richtige
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