Seelenriss: Thriller
erst das Gesicht verätzen und sich dann in den Tod stürzen?«, gab Belling zu bedenken. »Wie kann man sich selbst solchen Qualen aussetzen?« Er schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Ich meine, das ist doch, als würde man sich erhängen und gleichzeitig erschießen!«
»Hey, Leute«, rief Vogt plötzlich in den Raum hinein und kehrte Lena jetzt den Rücken zu, als sei sie Luft. »Wer erinnert sich noch an diesen Familienvater vor zwei Jahren, der seine Frau und Kinder abgestochen, dann mit Benzin übergossen und angezündet hat, um sich anschließend selbst in Brand zu stecken?«
»War ’ne ziemliche Sauerei«, kam es von einem jungen Beamten der Spurensicherung zurück, ehe er sich wieder daranmachte, das offene Fenster, aus dem sich Lynn Maurer gestürzt haben sollte, mit Fingerabdruckpuder zu bestäuben.
»Da hören Sie’s«, meinte Vogt mit einem schrägen Kopfnicken zu dem Kollegen. »Jede Wette, dass diese Lynn Maurer genauso ein Kaliber war – also sehen wir lieber zu, dass wir hier zum Ende kommen.«
»Das sehe ich anders«, hielt Lena dagegen.
Vogt drehte sich mit einem theatralischen Seufzer zu ihr um und wollte gerade etwas sagen, aber Belling brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Dann bat er ihn, sie einen Moment allein zu lassen. Schnaubend entfernte sich Vogt.
»Ich wusste, Sie würden das sagen«, meinte Belling mit dem Anflug eines Grinsens im Gesicht.
Lena blickte in sein vernarbtes Gesicht und lächelte. »Deshalb haben Sie mich schließlich angerufen.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sie erwartungsvoll an. »Dann lassen Sie mal hören, Peters.«
Lena richtete den Blick aus dem Fenster und sah zur Straße hinunter. Der Bordstein war inzwischen wieder passierbar, und lediglich die Kreidemarkierung und der dunkle Fleck der Blutlache erinnerten daran, dass hier vor kurzem ein Menschenleben erloschen war. »In der Regel unterscheidet man zwischen suizidalen Menschen, die tatsächlich beabsichtigen, sich das Leben zu nehmen, und jenen, die sich Schmerzen zufügen, indem sie sich selbst verletzen«, begann sie, den Blick weiter aus dem Fenster gerichtet. »Für Letztere ist der Schmerz eine Art Ventil, um ihr seelisches Leid zu verdrängen, aber keinesfalls mit der Absicht verbunden, sich das Leben zu nehmen.« Sie wandte den Kopf Belling zu. »Dass Lynn Maurer sich die Schnittwunden zugefügt und das Gesicht verätzt haben soll, passt für mich daher in keinster Weise mit einem Selbstmord zusammen.«
Belling nickte, wirkte auf Lena aber noch nicht wirklich überzeugt.
»Was aber, wenn Vogt recht hat, oder aber Lynn Maurer das Kind nicht bekommen wollte und einfach verzweifelt war?«, überlegte er laut. »Wer weiß, vielleicht war sie Opfer einer Vergewaltigung geworden und hatte sich das Gesicht verätzt, weil sie sich selbst nicht mehr in die Augen schauen konnte. Und das Kind wollte sie schon gar nicht behalten.«
Nachdenklich schüttelte Lena den Kopf. »Sie hat heute Morgen ihre Kleider aus der Reinigung geholt – warum hätte sie das tun sollen, wenn sie ohnehin vorgehabt hatte, sich umzubringen?«, hielt sie Belling entgegen und gab sich im nächsten Moment selbst die Antwort: »Allenfalls, um sie bei ihrem Tod zu tragen, doch das tat sie nicht. Und dann ist da noch dieses Sandwich …«, fuhr sie fort.
Belling blickte sie ungläubig an. »Das Sandwich? Was soll damit sein?«
Lena zog einen Mundwinkel hoch. »Würden Sie auf die Idee kommen, sich kurz vor Ihrem Tod noch ein Sandwich zu schmieren? Und es dann noch nicht einmal essen?«
»Nein, wohl kaum«, räumte er ein und legte den Kopf schräg.
»Und dann wäre da noch das Ticket«, sagte Lena.
»Was denn für ein Ticket?«
»Ich habe es in einer Bibel in der Küche gefunden. Lynn Maurer wollte übermorgen für sechs Tage nach Teneriffa fliegen.«
Sein Blick wurde weicher. »Ihnen entgeht aber auch gar nichts, was?«
»Möglicherweise war Lynn Maurer gerade dabei, ihre Koffer zu packen, als ihr Mörder aufgetaucht ist«, überlegte Lena.
Belling öffnete den Mund und presste die Lippen zusammen. Dann fragte er: »Sie meinen also, es handelt sich definitiv um Mord?«
Für Lena bestand nicht der geringste Zweifel. Sie nickte bedeutungsschwer und wollte eben ansetzen, noch etwas zu sagen, als Bellings Handy klingelte. Er klappte es auf und warf einen Blick aufs Display. Anstatt den Anruf anzunehmen, ließ er das Handy zuschnappen und steckte es wieder ein. Lena überlegte, ob sie
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