Seelenriss: Thriller
ihn darauf ansprechen sollte, entschied aber, dass das seine Privatsache war. Im nächsten Moment bemerkte sie eine hagere Frau, die mit einem Baby auf dem Arm im Hausflur stand und neugierig hereinspähte. Als sich ihre Blicke kreuzten, schloss die Fremde rasch die Tür zur gegenüberliegenden Wohnung auf und verschwand.
»Was ist eigentlich mit den Nachbarn?«, wollte Lena wissen.
Belling sah abwesend zum Fenster hinaus, als sei er mit den Gedanken woanders.
»Hallo, Erde an Wulf Belling …«
»Entschuldigung«, sagte er schnell.
»Die Nachbarn, hat die schon jemand befragt?«, wiederholte Lena.
»Ja, das heißt, nein, die meisten waren nicht zu Hause«, erwiderte er mit einem Räuspern.
Das reichte Lena nicht. »Und der ältere Herr, der die Polizei alarmiert hat?«
»Wohnt ein paar Häuser weiter. Vogt hat seine Aussage bereits aufgenommen«, erwiderte Belling und zeigte mit dem Daumen aus dem Fenster.
Lena nickte stumm, als Vogt mit einem Foto in der Hand auf sie zukam.
»Das hier haben wir in ihrer Brieftasche gefunden«, sagte er und streckte ihnen ein verknittertes Foto entgegen, das Lynn Maurer bei einem innigen Kuss mit einer Frau zeigte.
»Sie war lesbisch?«, murmelte Belling.
»Oder bisexuell«, meinte Vogt. »Wie auch immer – ich sag’s ja, die war ’n verdammter Freak.«
»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst«, schnaubte Lena und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Sie bezeichnen Lynn Maurer auf Grund ihrer sexuellen Neigung als Freak? In welchem Zeitalter leben Sie eigentlich?«
»So habe ich das nicht gesagt«, gab Vogt kaltschnäuzig zurück.
»Aber gedacht haben Sie es«, hielt Lena wütend dagegen und schüttelte den Kopf. »Finden Sie lieber heraus, wer die Frau auf dem Foto ist.« Rasch streifte sie ihren Overall und die Überziehschuhe ab und ging über den Flur zur Nachbarwohnung. Sie klopfte zweimal kräftig an die Tür und warf einen Blick auf das Klingelschild. »Magdalena Janowski« las Lena darauf. Obwohl das einsetzende Geschrei des Babys verriet, dass die Frau unmittelbar hinter der Tür stand, verging eine Weile, ehe sie öffnete.
»Guten Abend, mein Name ist Lena Peters, ich bin als Kriminalpsychologin für die Mordkommission tätig«, stellte Lena sich kurz vor und streckte der jungen, blassen Frau, die mit dem schreienden Baby auf dem Arm und einer Zigarette im Mundwinkel barfuß in der Tür stand, ihren Ausweis entgegen. »Sind Sie Magdalena Janowski?«
Die Frau nickte schwach. Ihre strähnigen Haare fielen ihr über die spitzen Schultern, und ihr weites T-Shirt war ebenso schmuddelig wie der hellblaue Strampelanzug des Babys. Offenbar war die Frau mit ihrem Kind überfordert, und widerstrebend fühlte sich Lena an ihre Zwillingsschwester Tamara erinnert.
»Dürfte ich kurz hereinkommen? Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
Magdalena Janowski schien über die Geschehnisse bereits im Bilde zu sein, denn sie ließ Lena herein, ohne sich nach dem Grund ihres Besuchs zu erkundigen. Während Lena ihr über den Flur ins Wohnzimmer folgte, stieg ihr der Geruch von Weichspüler und vollen Windeln in die Nase, der zum allgemeinen Zustand der heruntergekommenen Wohnung passte. Im Wohnzimmer hingen Porträtzeichnungen, wie man sie von den Straßenmalern am Brandenburger Tor kannte.
»Schreckliche Sache …«, sagte die Frau und nahm mit dem Baby auf dem abgewetzten Ohrensessel Platz. Sie sprach nur gebrochen Deutsch und hatte einen starken polnischen oder tschechischen Akzent. Mit ihren gelblichen Raucherfingern drückte sie die Zigarette im Aschenbecher auf dem kleinen Beistelltisch aus und griff nach dem Babyfläschchen. Lena setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa und sah zu, wie sie dem Säugling das Fläschchen gab. Es hörte im selben Moment auf zu schreien.
Lena lächelte das Baby an. Es hatte die schönsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte. Kinder waren etwas so Wunderbares. So hilflos und frei vom Makel des Bösen. Lena liebte Kinder über alles und musste sich regelrecht zwingen, der Frage zu widerstehen, ob sie den Kleinen einmal halten dürfte. Zudem hätte sie der Frau am liebsten eine Moralpredigt gehalten, welche Schäden das permanente Einatmen von Zigarettenrauch bei einem Säugling anrichten konnte. Doch deshalb war sie nicht hier, und sie hatte kein Recht, sich einzumischen. Vielleicht sollte sie einen Hinweis ans Jugendamt weiterleiten, die Frau im Auge zu behalten. »Wie gut kannten Sie Lynn Maurer?«, begann sie mit ihren
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