Seelenriss: Thriller
mortem zugefügt worden«, sagte Kindler. »Genaueres wird die Obduktion zeigen.«
Lena nickte und ging neben der Toten in die Hocke. Keine Hautabschürfungen unter den Nägeln oder Abwehrspuren in den Handinnenflächen, die auf einen Kampf hindeuteten.
Während der Leichnam Momente später unter den Blicken der Schaulustigen abtransportiert wurde, steuerte Lena zielstrebig auf den Hauseingang zu. Im Hausflur des heruntergekommenen Altbaus blickte sie sich vergebens nach einem Aufzug um und hastete die Treppen hinauf. Außer Atem erreichte sie den sechsten Stock. Hier oben wimmelte es nur so von Beamten der Spurensicherung, die in ihren weißen Einweg-Overalls jeden Winkel nach verwertbaren Spuren absuchten. Lena zog sich ebenfalls einen Overall sowie ein Paar Überziehschuhe an, die einer der Beamten ihr gereicht hatte.
Vor der Tür zu Lynn Maurers Wohnung blieb Lena kurz stehen, um das Schloss zu inspizieren. Keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens. Nachdem sie sich ein weiteres Mal ausgewiesen hatte, betrat sie die Wohnung mit Dachschrägen, in der sich die Hitze des Tages staute. Das Innere war nicht sonderlich groß, wirkte aber dank der großen Fenster, des breiten Sofas und den bis unter die Decke ragenden Bücherregalen dennoch gemütlich. Lena hielt nach Wulf Belling Ausschau, während sie den schmalen Flur entlangging. Auf der linken Seite befanden sich zwei geschlossene Türen. Hinter der ersten Tür verbarg sich das Badezimmer. Die zweite Tür führte Lena ins Schlafzimmer. Sie betrat den Raum und ließ ihre wachsamen Augen umherwandern. Der Kleiderschrank stand sperrangelweit offen. Davor ein leerer Koffer. Auf dem Bett lagen akkurat gestapelte Röcke und Blusen sowie einige Kleider, die noch immer in die Folie der Reinigung gehüllt waren. Auf dem Zettel der Textilreinigungsfirma daran war das heutige Abholdatum vermerkt.
Nachdenklich verließ Lena das Schlafzimmer und folgte dem stechenden Geruch, in dem auch eine Spur von kaltem Zigarettenrauch lag, in die Küche. An der Türschwelle blieb sie wie angewurzelt stehen, den Blick in den menschenleeren Raum gerichtet. Was auch immer sich in dieser Küche abgespielt hatte, musste mit entsetzlichen Qualen verbunden gewesen sein, war das Erste, was ihr durch den Kopf schoss. Sie nahm ein Paar Untersuchungshandschuhe aus ihrer Tasche und stülpte sie sich über. Dann folgte sie mit den Augen einer handbreiten Blutlache, die sich von einem umgeworfenen Stuhl bis zum Esstisch erstreckte. Rundherum war alles mit roten Fingerabdrücken übersät. Seit dem schrecklichen Verkehrsunfall ihrer Eltern löste der Anblick von Blut stets ein schummriges Gefühl in ihr aus und sorgte dafür, dass sich ihr die feinen Härchen im Nacken aufstellten. Sie musste sich förmlich zwingen, weiter hinzusehen, um zu rekonstruieren, was hier vorgefallen war. Ihr war, als könnte sie die Beklemmung und Todesangst, die diesen Raum vor wenigen Stunden erfüllt hatten, noch immer spüren.
»Diese Schale lag unter dem Küchentisch«, sagte ein breitschultriger Beamter der Spurensicherung, der in diesem Moment die Küche betrat und Lena eine Asservatentüte reichte, in der sich eine Schale befand. Sie nahm die Tüte mit behandschuhten Fingern an sich und steckte die Nase hinein. Der unverkennbar stechende Geruch ließ keinen Zweifel daran, dass sich darin die Säure befunden hatte. Lena gab die Tüte mit der Schale dem Beamten zurück und sah sich weiter um.
Am Kühlschrank hingen Einkaufslisten und Postkarten, an den Wänden ein Kruzifix und verschiedene Familienporträts. Nach Bildern von einem Lebensgefährten hielt Lena vergeblich Ausschau, was dazu passte, dass die Frau keinen Ehering getragen hatte. Auch fehlte die Einbuchtung, die über die Jahre an ihrem Ringfinger entstanden wäre, falls sie einen besessen, ihn aber abgezogen hätte.
Lenas Blick glitt über das schmutzige Geschirr in der Spüle, und sie stellte sich vor, wie Lynn Maurer noch vor wenigen Stunden hier in dieser Küche hantiert hatte. Auf der Arbeitsfläche lagen ein Mozzarella-Sandwich, Tomatenscheiben und ein Brotmesser. Lena prägte sich alles genauestens ein, jedes noch so unbedeutend erscheinende Detail konnte später ungeheuer wichtig sein.
Eine Winkekatze aus Porzellan, die neben Teedosen im Regal stand, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Lena ging darauf zu und entdeckte dahinter eine in dunkelrotes Leder eingebundene Bibel. Sie zog sie heraus und schlug sie auf. Zu ihrem Erstaunen befand sich darin
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