Seelensplitter: Thriller (German Edition)
hat er nur einen Teil des Nummernschildes erkennen können.
Sie beruhigen den aufgeregten Mann, machen sich Notizen für den Bericht, fotografieren und fahren zurück zur Wache. Die Kollegen warten schon mit den üblichen blöden Scherzen.
Gegen halb elf läuft die erste Meldung über nächtliche Ruhestörung ein.
»Sind früh dran«, sagt der Wachhabende vom Dienst. »Zwei Nachbarn haben unabhängig voneinander angerufen. Gepolter in der Wohnung, dann ein lauter Knall. Einer hat von einer Explosion gesprochen. Von Rauch war aber nicht die Rede.«
Dann reicht er Lina den Zettel mit Name und Adresse über den Tisch. Kostja Behrmann.
Zehn Minuten später stehen Lina und Alex vor der nur angelehnten Wohnungstür. Kein Licht in der Wohnung. Keine Geräusche.
Alex ruft laut: »Hallo, hier ist die Polizei!« Als niemand antwortet, betritt er die Wohnung. Lina leuchtet hinter ihm mit der Taschenlampe den Flur aus, als sie Alex’ Schrei hört.
»Mein Gott!«
»Was ist?«, fragt Lina alarmiert und eilt zu ihm. Das Licht der Taschenlampe fällt in sein entsetztes Gesicht. Er steht im Türrahmen des hinteren Zimmers und stützt sich ab.
»Was ist?«, wiederholt Lina.
»Geh besser nicht ins Schlafzimmer«, sagte Alex. »Die Spiegel, die Wände … da ist alles … voller Blut und … es ist grauenhaft!«
»Eine Explosion?«, fragt Lina.
Der Lichtstrahl zuckt durch den Flur. Da ist irgendetwas, das hier nicht hingehört, denkt sie und wendet ihren Blick von ihrem blassen und immer noch mit entsetzt aufgerissenen Augen dastehenden Kollegen ab.
Der zitternde Lichtkegel wandert über die Garderobe, an der ein tropfnasser Mantel und ein Schal hängen. Daneben ein wolkenförmiges Schlüsselbrett. Ein Flur wie unzählige andere, eine lieblos eingerichtete Schleuse, in der man den Arbeitstag abschütteln und an den Haken hängen will.
Sie richtet ihre Lampe auf das Foto über dem Schlüsselbrett und braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen, was sie sieht.
» Um Himmels willen!«, sagt Alex, der hinter ihr steht und sich räuspern muss, um weitersprechen zu können.
»Scheiße, Lina, auf dem Foto … das bist ja du!«
ES ist hinter ihr im Schrank. Brennt mit seinen Augen Kreise in ihre Haut. Leuchtende Kreise. Sie stechen. Riechen nach verbranntem Fleisch.
Gut so. So kann sie es niemals vergessen. Wird sich auf ewig daran erinnern. Ihr ganzes Leben lang. Sie schließt die Augen, ballt die rechte Faust und nimmt es sich ganz fest vor. Die aufglimmenden und brennenden Kreise in ihrem Rücken werden ihr dabei helfen. Ganz bestimmt.
Die Zeichen sind ein Schatz, denkt sie. Mein Schatz.
Es gibt Schätze, die werden in den Rücken geschnitten. So ist das eben.
Ihr Rücken ist eine Fackel. Wenn alle schlafen und träumen, leuchtet sie durch die Nacht. Die Fackel auf ihrem Rücken macht, dass die dunklen Dinge da draußen einen Schatten bekommen. Schatten, in denen man sich verbergen kann.
Nur das Warten ist nicht schön. Auch ES muss geduldig sein.
Sie sitzt auf dem Bett und kämmt ihre Puppe.
»Willst du Zöpfe?«, fragt sie.
Die Puppe sieht sie lächelnd an.
»Willst du? Na?«
Sie schlägt den Kopf der Puppe auf die Bettkante.
»Rede schon, du Vieh. Oder soll ich sie dir ausreißen? Göre!«
Sie hört ES atmen. Und die Kreise auf ihrem Rücken glimmen auf.
Schritte auf dem Flur, vorsichtig wird die Türklinke heruntergedrückt. Jetzt darf sie nicht hinsehen. Weiterkämmen.
Er steht in der Tür.
»Na, meine Prinzessin.«
Nicht hochsehen. Weiterkämmen.
»Welchen Finger willst du heute?«
»Ach, egal.«
»Kleines, ich nehme den Zeigefinger, der ist nicht so groß, ja?«
»Darf ich ihn nass machen? Es tut dann nicht so weh.«
»Ja, mach ihn mit der Zunge nass«, sagt der Schwarze Ritter. »Das mag ich.«
»Und sehen die Zwerge wieder durch das Schlüsselloch?«
»Oh ja, sie sehen uns zu.«
Und da war noch jemand, der ihnen zusah. Aber das verriet sie nicht. Sonst hörten die Kreise auf ihrem Rücken auf zu brennen. Und das durfte auf keinen Fall passieren.
»Zieh jetzt dein Prinzessinnenkleid an«, sagt er und hält ihr den Finger vor den Mund.
Jetzt tut er es, denkt sie. Und ES wird wieder wütend werden.
2
A lex macht einen halbherzigen Versuch, sie zurückzuhalten, doch Lina drückt sich an ihm vorbei und betritt das Schlafzimmer. Sie hält sich die Hand vor den Mund.
Die Spiegelfront des Schranks ist von Blutspritzern übersät. Das geflochtene Rattanbett ist auf einer Seite zusammengebrochen,
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