Seelensplitter: Thriller (German Edition)
der Laminatfußboden ist ebenfalls voller Blut. Neben dem Bett ein Nachttisch mit Lesebrille und verschnörkelter Lampe, daneben ein Buch über indianische Sternzeichen. Kein Aschenbecher, keine leeren Alkoholflaschen. Lina geht von der Seite näher an das Bett heran, aufs Schlimmste gefasst. Auch wenn sie es bereits ahnt – sie muss wissen, wer die oder der Tote ist.
Ein weißer Frauenarm hängt über der Bettkante. Der blutgetränkten Bettdecke nach müssen die Verletzungen am Körper erheblich sein.
Lina schiebt eine Haarsträhne der Frau beiseite. Trotz der Gefahr, Spuren zu verwischen: polizeiliches Standardvorgehen. Prüfen von Vitalfunktionen. Niemand von der Spurensicherung wird ihr einen Vorwurf machen. Zu ihrer Überraschung ist das Gesicht ganz und gar unverletzt.
Ihr Herz beginnt zu rasen, und ihr wird auf der Stelle übel. Doch hier gibt es keine Möglichkeit sich hinzusetzen.
Carolin. Verflucht Carolin!, hämmert es gegen die Innenseite ihres Schädels. Verflucht, wie kommt Carolin in diese Wohnung?
»Es tut mir leid, es tut mir so leid!«, presst sie hervor. Sie hatte Carolin gehen lassen, einfach so.
Lina weicht einen Schritt zurück und zwingt sich, langsam auszuatmen. Sie spürt, dass ihr Tränen über die Wangen laufen, und wischt sie mit dem Handrücken weg.
Das Zimmer sieht fast so aus, als wenn Carolin tatsächlich von Monstern zerrissen worden wäre. Aber wie kommt Blut an den Spiegel, wenn der Körper zugedeckt ist?
Carolins Gesichtsausdruck wirkt seltsam friedlich. Keine Spur mehr von der Gehetztheit, die Stunden zuvor in ihr Gesicht eingegraben war.
Mit sich selber im Reinen, zufrieden und mit einem Lächeln im Gesicht gestorben …? Unsinn. Nichts als Wunschdenken. Das Hirn spielt verrückt, wenn man unvermittelt einen Toten sieht. Der Tod ist und bleibt unfassbar.
Nach ein paar Jahren habe man sich daran gewöhnt, hatte ein Ausbilder der Polizeischule sie beruhigt. Nur mit dem Geruch bleibe es schwierig. Es ging damals um alte und kranke Menschen, die versterben, ohne dass jemand es mitbekommt. Um Leichenfunde, nachdem Nachbarn schließlich doch die Polizei alarmieren, weil Briefkästen überquellen oder weil es im Treppenhaus seltsam riecht.
Lina ist bisher davon verschont geblieben. Diese ist die erste Leiche seit Beginn ihrer Dienstzeit. Doch hier riecht es nicht nach Verwesung, sondern nach einem Raumduft. Jasmin. Stäbchen, die in einer Aromaflasche stecken, stehen auf dem Fensterbrett. Auch die Luft ist nicht abgestanden.
Lina tritt einen Schritt zurück. Sie darf jetzt keinen Fehler machen. Tatort sichern. Nur das Allernötigste berühren, die Lage der Leiche nicht verändern, keine Faserspuren hinterlassen, keine eventuell vorhandenen Fingerabdrücke verwischen. Das Tatortbild ist für die Kollegen von der Mordkommission der entscheidende erste Hinweis. Auf Selbstmord oder Fremdverschulden, bei Mord auf die Handschrift des Täters.
Sich zurückziehen und abwarten. Regeln beachten. Regeln helfen, Distanz zu wahren. Aber wie um alles in der Welt soll sie Distanz wahren? Sie kennt die Tote, Carolin ist nur kurze Zeit vorher bei ihr gewesen und hat sie gewarnt.
Sie hätte sie in ein Krankenhaus bringen müssen. Nicht professionell, wie sie sich verhalten hat. Und menschlich …
Verflucht, wie soll sie das erklären? Und dann ihr Foto im Flur! Während Alex an der Wohnungstür steht und in sein Funkgerät spricht, geht sie in die Küche und setzt sich an den Tisch. Einfach das Bild von der Wand nehmen, einstecken und verschwinden …?
Nein! Sie darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie etwas verbergen will. Sie kennt Carolin. Und sie wird das nicht verschweigen.
Lina sieht sich um. Die Küche ist aufgeräumt. Saubere Topflappen, eine Postkarte von der Mona Lisa mit einer Stecknadel an die Wand gepinnt, Wärmplatte der Kaffeemaschine sauber gewischt. Daneben Fotos, Schnappschüsse lachender Gesichter.
Das ist die Küche einer Frau, denkt Lina, sie passt nicht zu dem Männernamen an der Wohnungstür. Seit wann hat Carolin hier gewohnt? Und warum zeigt weder das Klingelschild noch der Briefkasten ihren Namen?
Ja, sie hat Carolin gekannt. Ein bisschen zumindest. Vor mehr als einem Jahr ist sie ihr bei dem Therapeuten Severin Carlheim zum ersten Mal begegnet. In seinem Wartezimmer mit den golden glänzenden Wänden, einer goldenen Schale und mit Sesseln, deren Lehnen ebenfalls golden schimmerten.
Carolins Blick erinnerte Lina an den einer Maus, die man mit
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