Seelensplitter: Thriller (German Edition)
mit »300« und sieht, wie es im Kopf des Jungen arbeitet. Schließlich nickt er und gibt Lina ein Zeichen, Platz zu machen. Aus seiner Jacke zaubert er einen Stick hervor, den er anstöpselt, um ein Programm herunterzuladen.
»Krypdecod«, liest Lina. Dann kann sie mitverfolgen, wie Zahlenkolonnen über den Bildschirm rasen. Nach etwa zehn Minuten, in denen der Junge seinen Blick starr auf den Bildschirm gerichtet hält und nicht davon abwendet, blinkt in einem Kästchen am unteren Rand ein Buchstabe auf: »S«. Der Junge ist offenbar unzufrieden und tippt mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. Er murmelt etwas vor sich hin, zieht ein Smartphone aus der Tasche, ruft eine Internetseite auf und liest einen Text. Immer wieder sieht er auf die über den Bildschirm rasenden Zahlen.
Der Cafébetreiber bringt Lina unaufgefordert einen Kaffee und stellt dem Jungen eine Cola hin. Ohne dass der den Kopf hebt oder sich gar bedankt, nimmt er einen Schluck und vergleicht weiter Zahlen. Der Mann malt mit dem Zeigefinger in der Luft ein paar Kreise um seinen Kopf, sieht auf den Jungen und sagt lachend: »Verruckt!«
Er geht wieder hinter seinen Ladentisch und widmet sich einem soeben eintretenden Kunden.
Lina zieht einen leeren Stuhl heran und setzt sich. Wie soll es jetzt weitergehen? Gibt der- oder diejenige Ruhe, wer auch immer hinter den Unterlagen her war, jetzt, nachdem er sie in seinen Besitz gebracht hat? Nicht sehr wahrscheinlich. Für den großen Unbekannten besteht schließlich immer noch die Gefahr, dass Lina sich erinnert. Beinhaltet die CD eine Kopie der Unterlagen? Das bleibt abzuwarten. Sie beobachtet den Eingang, als erwarte sie, dass dort jeden Moment ein Vermummter hereinstürmt und ein Blutbad anrichtet.
Der Junge am Computer nimmt einen Schluck aus seiner Colaflasche und kaut an einem Schokoriegel herum, den er aus seiner Jacke gefischt hat.
Sie muss an Paul Ender denken, der sicher Jahre brauchen wird, um über diesen Verlust hinwegzukommen. »Ich habe einfach kein Glück«, hatte er zum Abschied verzweifelt gesagt. Lina hatte ihn an der Tür noch einmal gefragt, ob er eine Vermutung, einen Verdacht habe. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mit der Therapie zu tun hat«, hatte er gemeint. »Es muss etwas anderes sein.« Und dann hatte er hinzugefügt, er habe Lina damals darum beneidet, dass sie sich nicht an ihre Kindheit erinnern konnte. »Ich hätte lieber vieles von dem vergessen, was ich erlebt habe.«
Draußen fährt langsam ein Polizeiwagen vorbei. Lina kann zwei Polizisten im Wagen erkennen, die sich angeregt unterhalten, und selbst auf diese Entfernung ist ihnen anzusehen, dass es sich um etwas Lustiges handeln muss. Jedenfalls schenken sie dem Internetcafé keine Aufmerksamkeit.
Lina fällt Agatha Christies Kriminalroman »Zehn kleine Negerlein« ein, in dem zehn Menschen von einem mysteriösen Gastgeber auf eine Insel eingeladen und dann einer nach dem anderen ermordet werden. Hat es sich jemand zur Aufgabe gemacht, alle Teilnehmer der Therapiegruppe nacheinander auszulöschen?
Der junge Computerfreak gibt plötzlich ein lautes Stöhnen von sich. Lina schaut auf den Bildschirm und erschrickt. Man sieht das Schlafzimmer der Wohnung von Kostja Behrmann, in der Carolin Scharnhövt zuletzt gewohnt hat. Im Bett liegt Astrid und hat Sex mit einem Mann, den Lina nicht kennt.
»Hola«, sagt der Junge und sieht Lina mit einem lüsternen Grinsen direkt in die Augen. Lina findet, dass er zu jung ist für so was und dass sie ihn eigentlich wegschicken sollte. Andererseits hat der sich vermutlich schon ganz andere Sachen im Internet angesehen.
»Verdadera acrobacia«, sagt er und verdreht mit Kennermiene die Augen.
Dann ein Schnitt. Stellungswechsel von Astrid, die plötzlich auf einem anderen Mann sitzt. Der Junge erhebt sich und geht zum Tresen. Offenbar lässt er eine süffisante Bemerkung fallen, die den nordafrikanischen Cafébetreiber zu einem breiten Grinsen in Linas Richtung veranlasst.
Lina verfolgt weiter die Filmsequenzen. Immer wieder gibt es Schnitte, neue Männer tauchen auf, neue Stellungen werden präsentiert. Um Himmels willen, was soll das?, denkt Lina.
Sie sieht sich die CD bis zum Ende an und winkt dann den Jungen zu sich.
»How to open?«, fragt sie, »öffnen, opening word?«
Der Junge sieht sie an und streckt ihr seine geöffnete Hand entgegen. Der Besitzer des Internetcafés beobachtet die Szene, und Lina vermutet, dass er später eine ordentliche Provision
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