Seelensplitter: Thriller (German Edition)
großes Gedränge. Feierabendverkehr. Viele der Wartenden haben Einkaufstüten oder Aktentaschen in den Händen. Normaler Berufsalltag, denkt Lina und fragt sich, wie lange die Untersuchung des Schusswaffengebrauchs noch dauern wird.
Während der Fahrt bleibt Lina an der Tür stehen und betrachtet die müden Gesichter der Mitfahrenden. Die Luft ist abgestanden, Geruch nach Schweiß liegt in der Luft. Erleichtert atmet Lina auf, als sie an der Haltestelle Hoheluftbrücke aussteigt.
Sie bleibt einen Moment auf der Brücke stehen, die über den Isebekkanal führt, und sieht der Sonne zu, die in einem leuchtenden Orange untergeht. Dann schlägt sie den Weg zu ihrem Lieblingsplatz am Steg ein, als plötzlich ein harter Gegenstand in ihren Rücken gedrückt wird.
»Zu dem Pumpenhaus da drüben«, sagt eine Frauenstimme. »Ich werde schießen, glauben Sie mir.«
»Antje Kernel?«
Lina dreht sich nicht um, tut, was die Frau ihr sagt. Sie wartet ab, während die Frau umständlich in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel sucht. Sie braucht mehrere Versuche, um die Tür aufzuschließen. Als es ihr endlich gelingt, reißt sie heftig an der über den Boden schabenden Metalltür.
Woher hat sie den Schlüssel?, fragt sich Lina, während sie unsanft in den muffig riechenden Raum geschubst wird.
»Ich will mich nur mit Ihnen unterhalten.«
»Mit vorgehaltener Pistole?«
»Ich weiß von den toten Frauen, mit denen Sie zu tun haben«, sagt Antje Kernel, »und ich will nicht die Nächste sein.«
»Sie glauben, dass ich …?«
»Ich glaube gar nichts mehr«, sagt sie. »Ich will nur wissen, ob es stimmt.«
»Was soll stimmen?«
»Dass Sie die Tochter von Irene Heise sind. Ist sie Ihre Mutter oder nicht?«
»Es ist nur ein Behördenpapier, auf dem ihr Name steht. Das wissen Sie doch.«
Ihre Stimmen klingen seltsam hallend in dem Raum mit der hohen Decke. Viele Meter weiter unten befindet sich ein jetzt abgedecktes Becken, das Regenwasser auffängt, um eine Überflutung des Kanals zu verhindern.
»Wie kommt man an den Schlüssel?«, fragt Lina.
»Das ist nicht wichtig. Was wollen Sie von mir?«, fragt die Frau.
»Aber …«
»Mit wem arbeiten Sie zusammen?« Sie reißt Lina an der Schulter herum. »Raus mit der Sprache! Wer steckt noch dahinter?«
Die Augen der Frau sehen gebrochen aus. Wie kleine Spiegel mit einem Riss darin. Sie lässt von Lina ab, entfernt sich ein paar Schritte und sagt: »Was ist passiert, dass man mir meine Identität vorenthält?«
Dann geht sie wieder auf Lina zu, eine Hand in ihrer Jackentasche. Sie baut sich herausfordernd vor Lina auf. Ganz plötzlich beginnt sie zu weinen, Tränen laufen ihr übers Gesicht.
Sie nimmt ihre Hand aus der Tasche und hält ein Schlüsselbund in die Luft.
»Ich kann das nicht«, sagt Antje Kernel. »Ich wollte Ihnen einen Schreck einjagen, Sie zum Reden bringen.«
»Worüber, um Himmels willen?«
»Über etwas aus meiner Vergangenheit«, sagt Antje Kernel. »Etwas, das mir Angst macht.«
Noch eine, denkt Lina und beschließt, ihre eigenen offenen Fragen vorerst nicht zu erwähnen.
»Etwas, woran Sie sich aber nicht erinnern können?«
Antje Kernel nickt.
»Ich habe das Schloss geknackt und durch ein neues ersetzt. Eine Woche habe ich mich damit beschäftigt. Verstehen Sie? Eine Woche! Das ist doch krank.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, sagt Lina. »Ich glaube, dass Irene Heise nur benutzt wurde, damit die Kinder überhaupt eine Identität bekamen.«
»Aber darüber muss es doch etwas Schriftliches geben! Sie sind doch Polizistin!«
Lina will etwas sagen, doch dann schüttelt sie nur ratlos den Kopf. Was könnte sie der Frau erzählen, das sie nicht noch mehr beunruhigt? Auf keinen Fall darf sie sie mit ihrer eigenen Geschichte noch mehr verängstigen. Wahrscheinlich ist sie jetzt schon so weit zu glauben, das Opfer einer Verschwörung zu sein.
»Sie sollten einen Rechtsanwalt aufsuchen«, sagt Lina.
Die Frau sieht sie an, als könnte sie nicht fassen, was Lina da vorgeschlagen hat.
»Einen Rechtsanwalt?«
Sie schüttelt ungläubig den Kopf.
Dann sagt sie unvermittelt: »Es tut mir leid«, und stürmt aus dem Pumpengebäude.
Lina sieht ihr irritiert nach. Dann wirft sie noch einen Blick durch den Raum. An den Wänden sind mit Schlössern versehene stählerne Kästen, hinter denen sich wahrscheinlich die elektrischen Anlagen befinden. Eine Ratte huscht nur einen Meter von ihr entfernt über den Betonboden. Kein Ort, an dem man
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