Seelensplitter: Thriller (German Edition)
länger bleiben sollte als unbedingt notwendig. Sie verlässt das Gebäude und drückt mit der Schulter die Tür zu.
Ob sie die Kollegen benachrichtigen sollte, damit die dafür sorgen, dass die Pumpstation wieder verschlossen wird? Schon allein wegen der Kinder, die tagsüber am Kanalufer spielen. Doch wie soll sie das erklären? Sie schaltet im Handy ihre Absenderkennung ab, ruft den Feuerwehrnotruf an und sagt, sie hätte spielende Kinder in einem Pumpengebäude entdeckt. Man werde sich darum kümmern. Wie denn ihr Name sei. Lina legt auf.
In ihrer Wohnung angekommen schließt sie die Tür von innen ab und verriegelt sie zusätzlich mit der altersschwachen Kette. Sie glaubt zwar nicht, dass Antje Kernel hier auftauchen wird, aber sicher ist sie sich nicht. Die Frau macht den Eindruck, kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.
Wilde Träume lassen sie immer wieder schweißgebadet aufwachen. Einmal ist es der tote Ralf, der – über und über mit Erde bedeckt – vor ihr steht, der sich plötzlich vor ihren Augen in Sven verwandelt. Sven zieht ein blankes Kabel aus seinen silbergrauen Haaren. Ein anderes Mal sieht sie in Zeitlupe, wie Carolins Bauch zerrissen wird. Carolin entschuldigt sich bei ihr, geht zum offenen Fenster und springt hinaus.
Um neun Uhr reißt das Handy sie aus dem unruhigen Schlaf. Che Ling fragt sie, wie es nun weitergehen solle. Er habe Christina und Pia trotzt mehrmaliger Versuche telefonisch nicht erreichen können.
»Ich kümmere mich darum«, sagt Lina und bereitet sich einen starken Espresso zu. Erst mal wach werden. Später vielleicht mal bei Alex auf der Wache vorbeischauen.
Sie schiebt die CD in den Computer und sieht sich noch einmal die Videos an. Nicht ein einziges Mal sieht Astrid in die Kamera. Auch sonst lässt nichts darauf schließen, dass sie weiß, dass sie gefilmt wird.
Sex, Erpressung … all das hat nichts mit Lina und ihrer Kindheit zu tun. Wer ist noch hinter den Unterlagen her? Wer hat den Psychotherapeuten ermordet? Was war noch in Carlheims Safe?
Lina macht sich auf den Weg in die Innenstadt. Christina arbeitet in einer Boutique am Gänsemarkt. Zumindest damals, das hatte sie mal erwähnt. Lina geht an den Luxusgeschäften vorbei, die ihre Filialen hierherverlegt hatten.
Durch die Schaufenster der Boutiquen versucht sie Christina zu erkennen. Ist überhaupt anzunehmen, dass sie noch hier arbeitet? Oder hat sie sich wieder in ein Dorf zurückgezogen, in dem es keine Geschäfte gibt, die ihre Kaufsucht schüren?
Lina geht weiter in Richtung Rathaus. Vielleicht war »Boutique« eine von Christinas typischen Übertreibungen? Möglich, dass sie in einem der Kaufhäuser arbeitet, in denen Teenies ihr Geld verbraten. Möglich aber auch, dass Christina nur in einem der hinteren Räume beschäftigt ist oder zu einer anderen Tageszeit arbeitet.
Lina läuft noch einmal die Geschäfte auf dem Gänsemarkt ab und bleibt vor einem Modeladen stehen, in dessen Auslagen ausschließlich graue Blusen liegen. Da plötzlich erkennt sie Christina an einer Bewegung, die ihr vertraut ist. Als Christinas Blick zufällig auf Lina vor dem Schaufenster fällt, erstarrt sie. Lina winkt ihr zu, doch Christina reagiert nicht. Mit einer Verzögerung, die Lina wie eine halbe Ewigkeit vorkommt, schüttelt sie den Kopf. Dann wendet sie sich einer Kollegin zu, die Blusen aufhängt. Lina winkt ihr nochmals zu, und Christina braucht wieder sehr lange, bis sie sich mit der Kollegin abgesprochen hat und endlich zur Tür kommt. Die blonde junge Frau schaut ihr neugierig nach und sortiert dann wieder weiter Blusen in ein Regal.
Vor der Tür fingert Christina eine Zigarette aus einer Schachtel, die sie zusammen mit einem Feuerzeug in der Linken hält, und zündet sie an. Sie macht einen gierigen Zug und bläst den Rauch seitwärts weg. Lina bemerkt ihre blutroten Fingernägel und einen rosafarbenen, riesigen Plastikring.
»Was willst du hier?«, sagt sie.
»Antworten«, sagt Lina.
»Es ist doch schon genug Schreckliches passiert. Kannst du nicht einfach aus meinem Leben verschwinden?«
»Das würde ich liebend gern!«, sagt Lina. »Aber vorher brauche ich wie gesagt ein paar Antworten.«
»Die habe ich nicht für dich«, sagt Christina und zieht erneut heftig an der Zigarette. »Was geht mich all das an?«
»Das ist ja schon mal ein Anfang«, sagt Lina. »Was meinst du denn mit all das?«
Christina scheint einen Augenblick zu überlegen, dann schüttelt sie den Kopf. »Vergiss es. Und
Weitere Kostenlose Bücher