Seelensturm
eindeutig für Mitleid und Emotionalität, was ich nicht leugnen konnte.
Alegra schluchzte tief. »Ich wollte das alles nicht und es tut mir wirklich leid. Ich wünschte, ich könnte es wieder gutmachen.« Sie schnäuzte in ein Taschentuch, das ich ihr gereicht hatte.
Ja, ich hatte Mitleid mit ihr und was das Verrückteste war, ich glaubte ihr sogar. Ich verstand zwar nicht, was diesen Sinneswandel ausgelöst hatte, aber es interessierte mich brennend, denn ich spürte genau, dass es Alegra im Augenblick nicht gut ging und dass mehr dahinter stecken musste. Es war still im Wohnzimmer und wir warteten darauf, dass Alegras Tränen versiegten. Als die Stille schon unangenehm wurde, begann sie zu erzählen.
»Ich komme aus einer einflussreichen und vielleicht auch euch bekannten Familie. Ich wuchs als Einzelkind auf.«
»Bitte, jetzt nicht die alte Leier, von dem armen, reichen Mädchen, dessen Kindheit sooo grausam war«, unterbrach Amy sie.
»Amy! Lass sie doch erst mal erzählen«, ermahnte ich meine Schwester, wofür ich von Alegra einen dankbaren Blick erntete.
»Nein, Amy. Ich kann dich beruhigen, mein Leben war gar nicht so schlecht. Ich hatte alles, was ein Mädchen brauchte, ein großes Zimmer mit allen Spielsachen, die ich mir nur wünschen konnte, genug zu essen und Kleidung, welche immer ich wollte.« Während sie uns davon erzählte, glitt ihr Blick ins Leere und sie hatte aufgehört zu weinen.
»Meine Mutter war viel unterwegs und dadurch verbrachte ich die meiste Zeit mit meinem Vater. Ich vermisste sie schrecklich. Ich fühlte mich einsam … und mein Vater wohl auch. An einem Weihnachtstag, damals war ich zehn, war seine Einsamkeit wohl unerträglich. Es war das erste Mal, dass er … nachts in mein Zimmer kam.«
Amy und ich wagten nichts zu sagen, stattdessen starrten wir sie schockiert an.
»Von da an kam er regelmäßig, bis ich es mit sechzehn nicht mehr aushielt und abhaute.«
»Du meinst, dein Vater hat …?«, wollte Amy schockiert wissen.
»Ja, über sechs Jahre hinweg hat er mich missbraucht«, sagte sie, immer noch gefangen in ihren Erinnerungen. Selbst die Abwehr meiner Schwester bröckelte. Sie war genauso fassungslos wie ich. »Und deine Mutter? Ich meine, konntest du es ihr nicht erzählen?«, fragte ich völlig irritiert.
Sie sah mich an und grinste sarkastisch. »Natürlich! Anfangs glaubte ich, dass das normal wäre, das zumindest erklärte mir mein Vater. Er sagte, alle Väter würden das mit ihren Töchtern tun. Aber irgendwann hatte ich solche Schmerzen, dass ich mich meiner Mutter anvertraute. Leider glaubte sie mir kein Wort. Erst der Arzt bestätigte es ihr, mehr oder weniger.«
»Und dann habt ihr deinen Vater angezeigt?«, hoffte ich ehrlich mitfühlend.
Wieder lag dieser sarkastische Ausdruck in ihrem Gesicht. »Nein, meine Mutter wollte diesen Skandal unter allen Umständen vermeiden und gab mir die Schuld. Ich hätte ihn dazu gebracht. … Sie gab mir die Schuld für seine Neigungen. Sie schlug mich, da sie der Meinung war, ich hätte ihn ihr weggenommen.«
»Das ist krank!«, meinte Amy entsetzt und schüttelte angewidert den Kopf.
»Das ist nicht dein Ernst! Sie ist doch deine Mutter! Wie kann jemand nur so grausam sein?«, fragte ich.
»Ich verschwand einfach mit sechzehn, lebte eine Weile auf der Straße, trank Alkohol und nahm Drogen. Es war eine harte Zeit. Dennoch hatte ich Glück im Unglück, konnte mich endlich durch eine intensive Therapie von all den Erinnerungen lösen. Mein Vater erhängte sich, nachdem ich gegangen war und meine Mutter starb vor ein paar Monaten. Eurem Onkel habe ich zu verdanken, dass ich noch am Leben bin. Er half mir, das alles durchzustehen. Wir lernten uns in einer Arztpraxis kennen, lange bevor wir zusammenkamen. Eigentlich kennen wir uns schon mehr als fünf Jahre und er war der Einzige, der in all der Zeit immer für mich da war. Er ermutigte mich, mit meinen Eltern abzuschließen und ein neues Leben zu beginnen. Das war nicht so einfach. Viele Menschen in meinem Leben konnten mit meiner arroganten Art nicht umgehen und mieden mich. Ich beschloss, einfach niemanden mehr an mich heranzulassen. Niemals wieder wollte ich so verletzt werden. Es war ein hartes Stück Arbeit, mich selbst wieder zu mögen, und dass andere mich mögen, daran muss ich noch …«
»Ihr seid die ersten, denen sie ihre Geschichte erzählt. Niemand weiß etwas darüber. Bisher wussten das nur Alegras Therapeut und ich«, hörten wir Onkel Finley
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