Seelensturm
Finley einfach auch nur überarbeitet«, versuchte ich zu erklären, in der Hoffnung, sie würde mir das abnehmen.
Agnes stand wieder auf und kam auf mich zu. »Und du? Geht es dir gut? Ich meine wegen Tom.«
Auch das noch. Sie glaubte doch tatsächlich, dass wir ein Paar waren. Aber das war immer noch besser, als würde sie die Wahrheit kennen.
»Es geht schon. Er ist ein Idiot, wenn er glaubt, dass ich ihm hinterherlaufe«, gab ich vor.
»So ist es recht, Mädchen. Lass ihn ruhig noch etwas zappeln. Das habe ich damals mit Ron auch getan. Spätestens nach ein paar Tagen kommen sie wie kleine Hündchen wieder angekrochen«, lachte sie, tätschelte meine Wange und lief langsam wieder aus der Bibliothek.
Die ganze Zeit über brannte der Zettel wie Feuer in meinem Hosenbund. Aber auch mein schlechtes Gewissen wurde ständig größer. All die Lügen, die ich den Menschen, die ich liebte, aufgetischt hatte, nagten an mir.
Endlich war ich wieder allein, schluckte das schlechte Gefühl schnell hinunter und zog das Papier hervor, drehte mich zum Fenster und faltete es eilig auf.
Heute Abend
… war nur darauf zu lesen, mehr nicht. Was sollte das bedeuten, heute Abend? Wann genau und wo? Unglaublich, der Typ hatte vielleicht Nerven. Der Zeitraum „heute Abend“ war ein sehr dehnbarer Begriff. Glaubte er, ich würde nur darauf warten? Ich schob den Zettel kopfschüttelnd in meinen Hosenbund zurück und verließ die Bibliothek in der Hoffnung, mich mit etwas anderem ablenken zu können. Vielleicht könnte ich Agnes beim Kochen helfen, oder im Garten.
So vergingen wenigstens ein paar Stunden, an denen ich nicht an unsere verzwickte Lage dachte. Obwohl ich beschäftigt war, trieben mich meine Gedanken zu Tom. Ich vermisste ihn. Was er jetzt wohl gerade tat? Er hatte Semesterferien und die verbrachte er nun allein und nicht wie geplant mit uns. Immer noch war das Gefühl, ihn verloren zu haben, so stark und hin und wieder musste ich mich zusammenreißen, um meine Wut nicht an der Wäsche auszulassen, die ich für Agnes aufhängte. Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu und ich spürte, wie ich mich mehr und mehr verspannte. Das bevorstehende Treffen mit Luca machte mich nervös. Diese innere Unruhe konnte ich nicht abstellen, auch wenn ich mich noch so anstrengte.
Amy, Onkel Finley und ich saßen am Esstisch in der Küche und nahmen einen kleinen Imbiss zu uns, den Agnes noch schnell für uns zubereitet hatte, bevor sie in ihren Feierabend ging. Vor Aufregung brachte ich fast nichts hinunter, doch ich zwang mich dazu. Amy hatte sich den restlichen Nachmittag in unserem Zimmer aufgehalten. Laute Musik dröhnte durch die Eingangshalle. Es war das sichere Zeichen dafür, dass sie ihre Ruhe wollte. Da ich mit Hausarbeit beschäftigt war, tat ich ihr den Gefallen. Sie schien sich beruhigt zu haben und das freute mich. Wiederum bestätigte sich mein Eindruck, dass ihr das Training mehr als gut tat. So konnte sie ihre Wut abtrainieren und sich auspowern. Ihr Gemüt hatte sich beruhigt und ich glaubte, dass ihre depressive Stimmung verflogen war und ihr Kampfgeist wieder die Oberhand hatte.
Onkel Finley war sehr still gewesen während des Essens. Den ganzen Tag über hatte ich ihn nicht einmal gesehen. Auch jetzt beim Essen schien er nicht wirklich bei uns zu sein.
Hin und wieder sah er mich an, aber auch gleich wieder auf seinen Teller. Er wollte uns seine Gedanken mitteilen, das spürte ich, doch irgendwie schien er nicht den richtigen Faden zu finden.
Beim nächsten Blick sah ich ihn fragend an und wartete darauf, dass er uns endlich mitteilte, was ihm auf dem Herzen lag. Und tatsächlich, er räusperte sich.
»Hört mal, auch wenn Vico Tramonti uns nun verlassen hat, heißt das nicht, dass wir hier bleiben müssen und darauf warten sollten, bis etwas passiert. Ihr wisst, dass ich eine Maschine gechartert habe. Wir können jederzeit von hier fort und uns in Sicherheit bringen.«
Amy hörte abrupt auf zu essen und starrte ihn an. Ich auch, aber ich senkte schnell wieder meinen Blick, da mein Plan, den ich geschmiedet hatte, wieder präsent war.
»Du meinst, für immer von hier fortgehen?«, fragte Amy.
Er nickte und plötzlich sah er müde aus. »Ja, für immer, Kleines«, flüsterte er.
»Und was wird aus unserem Haus und … Agnes?«
Meine Schwester hatte sich bisher darüber keine Gedanken gemacht. Nur ich ahnte, was eine Flucht für uns alle bedeuten würde. Das wusste er zwar auch, doch Onkel Finley
Weitere Kostenlose Bücher