Seelensunde
seine Tochter geboren wurde, lag er wieder vor mir auf den Knien und flehte mich an, das Mädchen am Leben zu lassen. ‚Lass sie am Leben‘, bettelte er, ‚lass sie den Sonnenschein und den Regen sehen. Ich verspreche dir alles dafür, was du haben willst.‘“
Alastor spürte, dass Naphré am ganzen Körper zitterte und jedes Wort sie traf wie ein Peitschenhieb. Von wem Izanami erzählte, stand außer Zweifel. Es ging um Naphrés Eltern.
„Ich habe mich zu seiner zweiten Bitte nicht geäußert“, fuhr Izanami fort. „Du hast aber wohl verstanden, dass du mir gehörst. Gemäß der Abkunft deines Vaters, aber auch nach dem, was dein Vater mir versprochen hat.“
„Nimm mich an ihrer Stelle“, schaltete Alastor sich ein, bevor Naphré auch nur Luft holen konnte. „Nimm meine Seele als Entschädigung.“ Allein der Gedanke daran, dass Naphré hier in dieser Finsternis gefangen sein sollte, ohne jemals wiederdas Tageslicht zu sehen, war ihm unerträglich. Er wollte, dass sie lebte und das Leben genießen konnte. Am liebsten natürlich mit ihm. Doch wenn das nicht möglich war, dann schon besser ohne ihn als gar nicht.
„Was führst du im Schilde?“, fragte Izanami.
„Nichts. Lass sie gehen, und ich bleibe hier.“
„Das geht dir ziemlich leicht über die Lippen, Reaper. Aber ich nehme dir sogar ab, dass du selbst an deinen Heroismus glaubst. Immerhin bist du in Jigoku geblieben, obwohl es dir möglich war, durch das Portal zu verschwinden. Nur, wie lange hättest du es letztendlich ausgehalten?“
„So lange, bis ich Naphré gefunden hätte.“
„Nichts als Worte.“ Kaum hörbar flüsterte sie: „Männer lügen. Alle.“
Alastor überlegte, wie er seinen Worten Nachdruck verleihen konnte. Ihr schlicht nur zu widersprechen, brachte gar nichts. Sie würde ihm nicht glauben.
„Licht“, befahl Izanami mit leiser Stimme, und augenblicklich flackerten Tausende von Kerzen auf.
Naphré fuhr erschrocken zurück, und Alastor nahm sie ein wenig fester in den Arm. Für einen kurzen Augenblick griff sie Halt suchend nach seiner Hand. Seine Hoffnung währte aber nur Sekunden, dann zog sie die Hand mit einem Ruck weg.
Er konnte es ihr nicht verdenken. Er hatte sie angelogen, ihr zumindest nicht die ganze Wahrheit gesagt, und dafür gab es auch kaum eine Rechtfertigung. Er hatte Zeit und Gelegenheit genug gehabt, ihr zu erzählen, dass er ihren Namen in Sutekhs Buch gesehen hatte. Er hätte sie auch über Gahiji aufklären können. Jedes Mal hatte er eine Erklärung dafür gefunden, es nicht zu tun. Nicht der richtige Zeitpunkt, die richtige Stimmung oder was sonst noch. Jede seiner Rechtfertigungen war ihm plausibel vorgekommen. Unterm Strich hatte er ihr jedoch die Wahrheit, all die Informationen, die sie direkt betrafen, vorenthalten, und dafür musste er jetzt geradestehen.
Die Shikome war auch da, wie sich jetzt zeigte. Sie standin ihrem lebenden und webenden Gewand ein wenig abseits. Izanami befand sich dichter bei ihnen. Alastor wunderte sich, als er sie sah, denn er hatte sie sich anders vorgestellt. Sie mochte knapp einen Meter sechzig groß sein. Ihre zierliche Gestalt war ganz in zarte weiße Gewänder gehüllt. Kein einziges der Kleintiere, die die Shikome so reichlich schmückten, war an ihr zu entdecken.
Dabei gab es in diesem Raum genug davon. Der Boden war mit menschlichen Kadavern in den verschiedensten Stadien der Verwesung bedeckt. Die Leiber stapelten sich zu den Wänden und Ecken hin. Auf, zwischen und unter ihnen wimmelte es von Würmern, widerlichen Käfern und Maden. In ihnen ebenso. Dort nistete in einer leeren Augenhöhle eine fette Spinne, da kroch aus einem Loch, wo früher eine Nase gewesen war, ein Tausendfüßler.
Im Kontrast dazu war inmitten der Leichenberge eine Tafel aufgebaut, die appetitlicher nicht sein konnte. Platten mit Fleisch, Früchten und Brot, Gebackenes und Gebratenes waren aufgetragen. Und der Tisch war vollkommen frei von jeglichem Ungeziefer, das sich nur für die verrottenden Toten zu interessieren schien.
Als Alastor das Essen erblickte, kam ihm eine Idee, wie er Izanami überzeugen konnte, dass es ihm ernst war. „Izanami“, sprach er, „wenn ich dir beweisen könnte, dass ich dir nichts vormache und tatsächlich an Naphrés Stelle hier bleibe, wie ich es dir angeboten habe, würdest du dann darauf eingehen?“
„Wie willst du das beweisen?“
„Wenn ich es könnte, wärest du einverstanden?“
„Wenn es wirklich ein Beweis wäre – ja.
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