Seelensunde
bekloppte Situation. Aber sie wusste auch, wie Butcher das sah. Das hier war sein verdammter Job, Geschäft ist Geschäft. Das war die wahre Regel Nummer eins.
„Die Gute.“ Naphré lachte bitter. Vor ihren Lippen sah sie den Atem in der Nachtluft flattern. „Das ist mein Name. Naphré bedeutet ‚Die Gute‘. Wusstest du das?“
„Nein. Unter etwas anderen Umständen hätte ich das sehr komisch gefunden.“ Butcher schüttelte den Kopf. „Naphré – ich dachte immer, das klingt überhaupt nicht japanisch.“
„Ist es auch nicht.“ Nicht ihr Vater, dessen Eltern aus Japan eingewandert waren und der selbst schon in den Staaten geboren war, sondern ihre ägyptische Mutter hatte den Namen ausgesucht. Von ihrem Vater hatte sie ihren zweiten Vornamen, Misao, ein schöner japanischer Mädchenname. Und der bedeutete so viel wie „die Treue“.
Und so hatte sie von ihrem Vater und Großvater von klein an die japanischen Tugenden eingetrichtert bekommen: vor allem Pflichtbewusstsein, aber auch Zurückhaltung, Respekt, Demut und Bescheidenheit. Ihren Erwartungen hatte sie weitgehend entsprochen. Anders als denen ihrer Mutter, deren Wunsch es gewesen war, sie bei der Isisgarde zu sehen, der Eliteeinheit der Isistöchter. Ein Wunsch, den Naphré ihr nicht erfüllen konnte. Was für ein Durcheinander.
Von all dem wusste Butcher nichts. All die Jahre hindurch hatten sie sich über persönliche Dinge nie unterhalten. Einmal hatte er ihr erzählt, dass er sich im Urlaub in der Dominikanischen Republik einen Ausschlag geholt hatte, für den er die Sandflöhe am Strand verantwortlich gemacht hatte. Das war alles.
„Tja …“ Butcher wusste anscheinend nicht mehr, was er sagen sollte. Er seufzte. „Tut mir wirklich leid, Naphré.“
„Ja, mir auch.“ Sie war wirklich eine Gute gewesen. Er hatte ihr oft gesagt, dass sie seine beste Schülerin war, auch wenn die Bescheidenheit es ihr verbot, das für bare Münze zu nehmen. Wenigstens durfte sie mit Fug und Recht von sich behaupten, dass sie wie ein Schwamm alles aufgesogen hatte, was er ihr beigebracht hatte, und sich noch etliches darüber hinaus angeeignet hatte. Dabei blieb ihr stets bewusst, dass man nie auslernte.
In wenigen Metern ging es nicht mehr weiter. Das Tor zum Friedhof war verschlossen. Noch einige Schritte, dann musste Butcher sich etwas einfallen lassen, wie es weitergehen sollte. Naphré wartete gespannt ab, was passierte.
Und wirklich spürte sie im Nacken, wie der Druck der Pistolenmündung für einen Augenblick nachließ. Es war nur eine winzige Bewegung, die den Lauf der Glock ein wenig aus der Richtung brachte. Das musste genügen. Es war Naphrés einzige Chance. Mit einer blitzschnellen Bewegung drehte sie sich um und duckte sich gleichzeitig. Einen Sekundenbruchteil später rammte sie ihm so hart sie konnte den Ellenbogen in die Weichteile.
Für einen Moment ging Butcher die Luft aus, und er krümmte sich vor Schmerzen, dann drückte er ab. Die Kugel verfehlte sie knapp. Aus den Augenwinkeln sah Naphré eine Strähne ihres glatten schwarzbraunen Haars fallen und spürte darauf, wie ihr das Büschel über den Handrücken glitt.
Naphré fuhr herum und schlug ihm mit aller Kraft mit der hohlen Hand aufs Ohr. Es genügte, um ihn für einen Moment benommen zu machen, bevor er den nächsten Schuss abfeuerte. Diese Verzögerung, die nur einen Sekundenbruchteil dauerte, nutzte Naphré zu ihrem Vorteil. Mit einer pfeilschnellen Bewegung lenkte sie die Hand, die die Pistole hielt, sodass das Projektil sein Ziel erneut um Haaresbreite verfehlte. Sie hätte schwören können, dass sie an ihrer linken Wange den Luftzug gespürt hatte, mit der die Kugel an ihr vorbeipfiff.
Sie krallte die Nägel in Butchers Unterarm und riss vier tiefe, blutige Furchen in die Haut, während sie versuchte, wieder sicherenStand zu gewinnen. Butcher stöhnte auf, behielt aber die Waffe fest in der Faust. Mit der freien Hand schlug er Naphré ins Gesicht. Durch die Wucht des Schlags schnellte ihr Kopf nach hinten, ihr platzte die Unterlippe auf. Trotzdem ließ sie nicht locker, ihre Fingernägel bohrten sich tiefer in sein Fleisch. Es war ein erbarmungsloser Kampf auf Leben und Tod, und der Preis war die Glock.
Mit voller Wucht stieß sie ihm noch einmal das Knie ins Gemächt, aber er hatte die Attacke vorhergesehen, und so traf sie nur seinen Oberschenkel. Der Pferdekuss entlockte ihm nicht mehr als einen kurzen Schnaufer und zeigte sonst keinerlei Wirkung. Mit der
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