Seelensunde
So einen Ring hatte Naphré auch bei Pyotr gesehen. Er trug ihn am kleinen Finger, das war ihr gleich aufgefallen.Sie hatte aber nicht danach gefragt.
„Die Frau war vollkommen kahl. Sie hatte weder ein Haar auf dem Kopf noch Augenbrauen oder Wimpern. Nicht einmal Nasenhaare, soweit ich das erkennen konnte. Dunkle Augen, einen olivfarbenen Teint. Ich schätze sie auf etwas über vierzig. Sie trug keinen BH, und ihre Titten sahen noch ganz manierlich aus.“ Auf solche Schilderungen von Butcher konnte man sich verlassen. „Ich sollte dich kampfunfähig machen und sie dann anrufen, damit sie den Rest selbst erledigen könnte, aber ich habe ihr gleich gesagt, dass ich so nicht arbeite.“
Naphré wurde aus dem Ganzen nicht schlau. Warum wollte eine Setnakht-Priesterin ihren Tod? Und warum war ihr so sehr daran gelegen, dass sie selbst Hand anlegen wollte? Naphré musste unbedingt Antworten auf diese Fragen finden, wenn diese Nacht überstanden war.
Immerhin hatte Butcher mehr preisgegeben, als sie verlangt hatte. Einer von ihnen beiden würde auf diesem verlassenen, mondbeschienenen Parkplatz vor dem Friedhof auf der Strecke bleiben, auf dem man die feuchte Erde riechen konnte, die von den Gräbern herüberwehte. Im Augenblick sah alles danach aus, dass Butcher das sein würde.
Sie sah ihn einen Augenblick lang fragend an, als ihr wie aus dem Nichts der Gedanke kam, dass Butcher diesen Ausgang absichtlich herbeigeführt haben könnte. Aber so selbstlos war Butcher nicht.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er: „Ich hätte die Sache zu Ende geführt, Naph. Wenn du es nicht geschafft hättest, mir die Waffe abzunehmen, hätte ich kurzen Prozess gemacht und dich dann da hinten begraben.“ Er machte eine Bewegung mit dem Kinn zum Friedhof hinter dem Eisengitter, auf dem die weißen Grabsteine im Mondlicht schimmerten und aussahen wie Zähne in einem lückenhaften Gebiss. „Ich hätte dich in ein offenes Grab gelegt, und morgen hätten sie einen Sarg in die Grube gelassen. Einen besseren Platz gibt es nicht, um eine Leiche verschwinden zu lassen.“
„Dort würde garantiert niemand suchen. Das stimmt.“
„Tja, so wie es aussieht, guckt sich nur einer von uns beiden die Wiederholung von CSI New York im Fernsehen an.“
„Ich weiß.“ Naphré konnte nur flüstern.
Plötzlich war er wieder auf den Füßen, schneller, als man es bei seinem Körperumfang hätte vermuten können. Eine Klinge blitzte in seiner Hand, als er sich auf sie stürzte und das Messer auf ihr Herz zielte. Er ließ ihr keine andere Wahl.
Naphré kam es vor, als erlebe sie die Szene in Zeitlupe. Und sie dachte noch: Verdammt, Butcher hat noch nie ein Messer dabei gehabt .
Dunkelheit und Schmerz.
Nichts weiter. Mehr war nicht.
Keine Worte, keine Begriffe, keine Erinnerungen, keine Träume.
Keine Vorstellung, wo er war. Er wälzte sich auf die Seite und biss die Zähne zusammen, so unerträglich war der Schmerz in seinen Gliedern. Wie Glasscherben, die ihm ins Fleisch schnitten – bis ins Knochenmark, so kam es ihm vor. Ein Schmerz, den er nie zuvor erfahren hatte. Ein Gefühl von vollkommener Leere. Eine Art Verhungern – nicht nur im Magen, sondern in jeder seiner Zellen.
Wie lange befand er sich schon in diesem Zustand? Seit Stunden? Seit Jahren, Jahrhunderten? Es gab keine Anhaltspunkte.
Lokan. Ein Wort geisterte durch sein Gehirn, mit dem er nichts anfangen konnte. Dann verschwand es wieder. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber es wollte ihm nicht gelingen.
Dann aber doch. Dieses Wort hatte eine Bedeutung. Lokan. Lokan Krayl. Es war sein Name.
Da waren Erinnerungen, etwas, das er einmal gewusst hatte, aber es war in einem undurchdringlichen Nebel verborgen.
Mit Mühe richtete er sich auf, sodass er aufrecht saß. Wenigstens glaubte er, aufrecht zu sitzen. Der Ort hier schien keineräumliche Ausdehnung zu haben, keine sichtbaren Fixpunkte, keine Orientierungsmöglichkeiten, sodass man oben nicht von unten unterscheiden konnte.
Und dieser Ort hielt ihn gefangen.
Er streckte die Hände aus, um zu ertasten, was ihn gefangen hielt. Aber da waren keine Mauern. Es waren Barrieren da, aber er fühlte keinen Widerstand. Vielleicht war er es selbst, der keine Substanz hatte. Er war ein Gefangener in einem – Nichts. Er musste schon etliche Male versucht haben zu entfliehen, aber es war ihm nicht gelungen.
Keuchend versuchte er, den Nebel zu durchdringen, der alles umgab, der ihm alle Gewissheit nahm. Dann sah
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