Seelensunde
Faust zielte er nach ihrem Kinn. Naphré war jedoch genauso auf der Hut wie er und konnte rechtzeitig ausweichen. Dennoch streifte der Schlag sie, und der nächste erwischte sie vollends. Ein scharfer Schmerz durchzuckte sie, sie sah Sterne funkeln.
Ihr Puls ging wie rasend. Noch immer behielt sie Butchers Handgelenk im Griff und schaffte es, ihm mit dem Ballen der freien Hand einen kräftigen Nasenstüber zu verpassen. Es gab ein unangenehmes, knirschendes Geräusch, und Butcher schoss das Blut aus dem Gesicht. Nach einem weiteren Schlag auf sein Handgelenk gab er die Glock endlich frei. Wie ein glitschiger Fisch entglitt sie seiner Hand. Naphré gelang es mit einiger Mühe, die Waffe aufzufangen.
Keuchend und vollgepumpt mit Adrenalin, sprang sie einige Schritte zurück. Das war Butchers Fehler gewesen. Er hätte Abstand halten müssen, und Naphré dachte nicht daran, ihm durch denselben Fehler eine zweite Chance zu geben. Dennoch war sie alarmiert. Fast kam es ihr vor, als wäre es ein wenig zu einfach gewesen, Butcher zu entwaffnen.
Auf dem rissigen Asphalt des Parkplatzes lag Butcher vor ihr auf den Knien. Er schwankte leicht und hielt sich das Ohr, während ihm das Blut aus der Nase strömte und am Kinn hinunterlief. Seine Hosenbeine waren von der Pfütze, in der er kniete, durchnässt. Mit zusammengekniffenen Augen sah er zuNaphré herüber. Ohne Zweifel würde er sie auf der Stelle töten, wenn sie ihm die Möglichkeit dazu ließe.
Naphré schmeckte Blut, aber es war ihr eigenes, und das war gut so. Nie im Leben würde sie die Dummheit begehen, fremdes Blut zu sich zu nehmen. Vor sechs Jahren hatte sie der Isisgarde den Rücken gekehrt, der geheimen Eliteeinheit, die zum Schutz der Isistöchter aufgestellt war. Damit hatte sie das Erbteil ihrer Mutter ausgeschlagen. Wenn sie jetzt auch nur die geringste Menge menschlichen Bluts in sich aufnahm, wäre alles vergeblich gewesen, was sie seitdem versucht hatte, um sich von der Garde zu befreien.
Naphré spuckte aus und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, aber der Geschmack blieb. Wenn sie diese Nacht überlebte, wusste sie schon, was sie als Nächstes essen würde. Ein großes Steak, am besten noch blutig. Bei diesem Gedanken fühlte sie ein Brennen auf der Haut an der Schulter, wo das Isiszeichen eingebrannt war, und ein unwiderstehliches Verlangen überkam sie. Sie verfluchte im Stillen die Isisgarde, die ihr das angetan hatte. Man hatte sie vor die Wahl gestellt. Aber eine Entscheidung, die auf Lügen und Unkenntnis der vollen Wahrheit beruhte, konnte man kaum eine freie Entscheidung nennen.
Denk an deine Pflicht, Naphré Kurata.
Oh ja. Der Appell ans Pflichtgefühl. Das zog immer, besonders bei einem Kind, dem der Vater und der Großvater die traditionellen japanischen Tugenden von klein auf eingeimpft hatten: Pflichterfüllung, Demut, Ehrerbietung.
Die Garde zu verlassen hatte sie fast umgebracht. Aber was danach gekommen war, war noch schlimmer gewesen.
„Und jetzt erzählst du mir, wer dich angeheuert hat, Butcher.“ Naphrés Atem ging schwer, ihr Herz hämmerte wie verrückt, und doch war ihre Hand ruhig und sicher, als sie die Glock auf Butchers blutverschmiertes Gesicht richtete. „Wer ist es, der meinen Tod will? Wenn du es mir erzählst, mach ich es kurz.“ Wenn nicht, wird es lang und qualvoll werden .
Butcher nahm ihre Drohung ernst. „Du bist immer meineBeste gewesen, Naph.“
Sie wusste in diesem Moment schon, dass sie sich später an diese Worte erinnern und dass sie ihr schmerzlich in Erinnerung bleiben würden. Eine Mischung aus Stolz, Zuneigung und Resignation klang aus ihnen heraus. Aber es war nicht der richtige Augenblick, um sich auf solche Sentimentalitäten einzulassen. Sie durfte in ihrer Aufmerksamkeit keine Sekunde nachlassen und darüber nachdenken. Später, wenn all dies heil überstanden war, würde diese Szene sie noch oft genug verfolgen – und sie würde sich dabei vorkommen wie ein Stück Dreck.
„Los, sag schon! Gib mir eine Chance, mich gegen ihn zu wehren.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Um der guten alten Zeiten willen.“ Butcher schwieg. Naphré wiederholte ihre Frage mit mehr Nachdruck: „Wer hat dich engagiert? War es Xaphan?“
Naphré war in ihrem Job zu erfahren, um sich auf bloße Vermutungen zu verlassen. Es konnte ebenso gut jemand anderes als Xaphan sein, der ihr nach dem Leben trachtete. Im Laufe der Jahre hatte es etliche Götter und Dämonen der Unterwelt
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