Seelensunde
Brüder diesen Schmerz auch gespürt? Hatten sie gemerkt, dass es mit ihm geschehen war?
Jetzt war die Verbindung zu ihnen abgeschnitten.
Während sie ihn getötet hatten, hatte die ganze Zeit jemand hinter ihm gestanden und zugesehen. Er hatte sich nicht umdrehen können, um ihm ins Gesicht zu sehen. Aber die Stimme hatte er erkannt. Wie damals packte ihn das Entsetzen. Nicht allein Gahiji war der Verräter. Es gab noch einen anderen.
Seine Brüder! Wieder ergriff ihn die Panik. Er musste etwas tun. Er schrie auf vor Verzweiflung, wollte aufstehen.
Dann erloschen seine Erinnerungen, und er konnte sich auf nichts mehr besinnen. Keine Bilder, keine Namen. Nicht einmal sein eigener.
4. KAPITEL
Rosiges Gesicht am Morgen, am Abend weiße Knochen.
J APANISCHES S PRICHWORT
N aphrés Hirn hatte nicht aufgehört zu arbeiten, als sie Butcher mit dem gezückten Messer auf sich zukommen sah. Die Klinge blitzte im Mondlicht auf. Zwischen Einatmen und Ausatmen hielt sie eine Sekunde lang inne und gab den ersten Schuss ab, während des Ausatmens den zweiten.
Der erste Schuss hinterließ ein sauberes, rundes Loch in der Stirn. Am Hinterkopf, wo die Kugel austrat, sah es vermutlich weniger appetitlich aus. Der zweite Schuss traf die Brust etwa sieben Zentimeter links vom Brustbein. Das Geschoss zerfetzte die linke Herzkammer.
Butchers Körper hatte für einen Moment in regungsloser Starre verharrt, dann fiel er kraftlos in sich zusammen. Da lag er nun wie ein Häufchen Elend. Naphré atmete tief durch. Durch die Nase sog sie die Luft ein, durch den Mund stieß sie sie wieder aus. Ein ungutes Gefühl meldete sich. Trauer, Schuldbewusstsein – aber dafür war später Zeit genug. Gegenwärtig konnte sie sich solche Anwandlungen nicht leisten.
Naphré beugte sich über Butchers Körper und suchte vergebens den Puls an seiner Halsschlagader. Butcher war tot. Hinüber. Nur wohin? Naphré hatte keine Ahnung, wem seine Seele zugedacht war. Osiris? Hades? Satan? Vielleicht sogar Hel, der nordischen Todesgöttin? Vielleicht erwartete ihn das Fegefeuer. Oder Ammut, die grausame Krokodil-Göttin, würde ihn fressen. Vielleicht.
Alles Vermutungen, die jetzt keine Rolle mehr spielten. Er war tot, und sie lebte. Sie hatte eine Entscheidung treffen müssen. Hätte sie es nicht getan, würde sie jetzt so wie er ausgestreckt am Boden liegen. Und in ihrem Fall wäre klar gewesen, wohin sie wechselte. Direkt ins Reich des Dämons, demsie versprochen war. Und dorthin wollte sie unter gar keinen Umständen.
Naphré durchsuchte routinegemäß die Taschen des abgetragenen, alten Trenchcoats, von dem sich Butcher seit Jahren nicht hatte trennen können. Sie förderte seine Brieftasche, sein Handy und seine Wagenschlüssel zutage. Bingo. Sie wusste, dass er sie immer in der Innentasche trug. Der unauffällige graue Viertürer parkte auf der anderen Seite des Parkplatzes. Sie lief zum Wagen hinüber und fand nach kurzem Suchen ihre Glock und ihr Messer. Das zweite Messer lag nicht weit davon entfernt. Nachdem sie ihre Waffen wieder dort verstaut hatte, wohin sie gehörten, und Butchers Pistole in den Hosenbund gesteckt hatte, warf sie noch einen Blick in den Kofferraum.
Hier sah es kaum anders aus als in dem ihres Mini Coopers. Alles war durchorganisiert, der Erste-Hilfe-Kasten griffbereit, ein Schlafsack, ein Plastikbehälter mit Wasserflaschen und ein paar unverderblichen Lebensmitteln. In Butchers Fall waren das eine Riesenpackung Käse-Cracker, ein paar Schokoladenriegel und eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen. Naphré hatte eher eine Schwäche für Müsliriegel. An einer Seite fand sie einen Klappspaten. Typisch Butcher. Auf alle Eventualitäten vorbereitet.
Wie konnte es dann sein, dass sie ihn erwischt hatte und nicht er sie?
Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie und verursachte ihr eine Gänsehaut. Ihr war, als hätte sich nicht weit von ihr im Unterholz etwas bewegt. Sie blickte hinüber, konnte aber nichts entdecken. Sie unterdrückte ihr Unbehagen, griff sich den Spaten und kehrte entschlossenen Schrittes zu Butchers Leiche zurück. Einen Augenblick verharrte sie dort und blickte auf den leblosen Körper.
Butcher war ein richtiger Brocken. Seine Vorliebe für gehaltvolle XXL-Pizzas und fettige Chips hatten seiner eher bescheidenen Größe von einem Meter vierundsiebzig stolze neunzig Kilo eingebracht. Dennoch war er nicht einfach fett, sonderndank seiner unermüdlichen Hantelübungen im Fitnessklub auch ein Stück weit
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