Seelensunde
dazu, die Waffe gegen sie zu ziehen. Gefühlsüberschwang gehörte zwar nicht zu seinen Charaktereigenschaften – zu ihren auch nicht –, aber einen Auftrag anzunehmen, der den eigenen Schützling das Leben kostete? Das war doch irre.
In letzter Zeit hatte Butcher sich sowieso merkwürdig benommen. Vor ein paar Wochen hatte er darauf bestanden, einen Job allein durchzuführen. Er hatte ausdrücklich betont, dass er sie nicht dabeihaben wollte. Sie hatte sich darüber sehr gewundert, aber nicht weiter danach gefragt. Es war schon das eine oder andere Mal vorgekommen, dass er allein losgezogen war. Vermutlich immer dann, wenn er gewusst hatte, dass es kein Job nach ihrem Geschmack sein würde. Ihm waren die Skrupel fremd, die sie hatte. Aber dieses eine Mal schien etwas schiefgelaufen zu sein. Butcher war seit dieser Nacht nicht mehr der Alte. Er war misstrauischer geworden, und verschlossener. Irgendetwas hatte er von einem Tempel und einem Opfer gemurmelt, und bei späterer Gelegenheit hatte er – nach einer Flasche Whisky – etwas von einem Typen namens Frank Marin erzählt und den Namen Krayl erwähnt. Wer oder was das sein sollte, wusste sie nicht. Es konnte ebenso gut ein Eigenname wie ein Ortsname oder etwas anderes sein, und Butcher war nicht in der Stimmung gewesen, weitere Frage zu beantworten.
Immerhin hatte das ihre Neugier so sehr gereizt, dass sie ein paar Nachforschungen angestellt hatte. Im Internet hatte sie den Begriff Krayl unter anderem als Namen des Commanders eines Raumschiffs in einem Online-Game, als Namen eines Basketballspielers in der College-League und als Namen eines Dämonsgefunden. Über Letzteren war kaum mehr in Erfahrung zu bringen. Die Ausbeute Marin betreffend war ebenfalls kümmerlich. Er war offensichtlich Abschaum, hatte in Australien kleine Kinder missbraucht und war kürzlich in einem heruntergekommenen Motel in Texas tot aufgefunden worden. Was für eine Rolle hatte dieser Kerl für Butcher gespielt? War er ein Komplize von ihm? Wohl kaum. Wenn Butcher Unterstützung gebraucht hätte, hätte er sich an sie gewandt. Ein Zeuge? Möglich. Aber sie hatte jetzt etwas anderes zu tun, als solche Grübeleien anzustellen. Sie musste die Leiche loswerden.
Naphré spähte in die Grube. Am Boden wimmelte es von Ungeziefer: Würmer, Käfer, Raupen, Maden. Und das waren nur die, die man mit bloßem Auge sehen konnte. Viel schlimmer fand sie das Zeug, das man nicht sehen konnte: Bakterien, Schimmelpilze und was sich sonst noch so von totem Fleisch ernährte. Wirkliche Gefahr ging immer von den unsichtbaren Tierchen aus. Naphré tastete nach ihrer Hosentasche und vergewisserte sich, dass die kleine Flasche Desinfektionsmittel dort war, wo sie sie immer bei sich trug.
Dann zog sie den Spaten aus Butchers Hosenbund und sprang damit hinunter. Mit geübten Handgriffen machte sie das Loch einen halben Meter tiefer und kam dabei trotz der kühlen Nacht ziemlich ins Schwitzen. Zwanzig Minuten später lehnte sie den Spaten in eine Ecke, kletterte aus dem Grab und hockte sich neben Butcher. Sie rollte ihn auf die Seite bis an den Rand des Lochs und ließ ihn dann hinunterfallen. Mit einem dumpfen Geräusch schlug der Leichnam unten auf. Naphré schaute nach. Er lag dort mit grotesk verrenkten Gliedmaßen. Die offenen Augen starrten ihr mit leerem Blick entgegen.
„Kuso“, flüsterte Naphré. Der japanische Ausruf bedeutete so viel wie „Oh, Scheiße!“ Wieder sprang sie hinunter, stellte sich rittlings über den Toten und zerrte eine Weile an seinen Armen und Beinen, bis er sich insgesamt in einer Position befand, die der eines Schlafenden glich. Schon besser. Etwas fehlte noch. Sie beugte sich hinunter und drückte ihm die Augen zu.
Ihr schauderte, als sie seine kalte Haut berührte.
Aber das waren nur die Äußerlichkeiten. Ihr schwante, dass es noch mehr zu tun gab, um ihm den Weg, den er vor sich hatte, zu erleichtern. Das waren Gedanken, die sie sich bei ähnlicher Gelegenheit noch nie gemacht hatte. Aber hier ging nicht es um einen ihrer Jobs. Hier ging es um Butcher.
Sie suchte in ihren Taschen nach Münzen und förderte drei Zehn-Cent-Stücke und einen Vierteldollar zutage. Das reichte nicht. Um den Sanzu-Fluss zu überqueren, der eine ähnliche Grenze zum Totenreich darstellte wie der Fluss Styx in der griechischen Mythologie, brauchte es sechs Münzen, und Naphré war entschlossen, ihn nicht ohne diese gehen zu lassen. Ungeduldig durchwühlte sie Butchers Taschen, zunächst
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