Seelensunde
er ein Bild: den Fluss Styx, ein Boot mit einem Fährmann. Es war da. Aber war es wirklich da? Er rieb sich die Augen. Er glaubte, dass er das tat, aber er fühlte nichts, nur diesen unglaublichen Schmerz.
„Gib mir Schwung, Daddy. Noch höher.“ Die kleine Stimme klang hell. Und glücklich. So unglaublich glücklich. Ein kleines Mädchen auf einer Schaukel, das vor Freude juchzte, während es immer höher durch die Luft flog. Sein kleines Mädchen. Seine Tochter. Er vermisste sie so sehr. Aber sie war in Sicherheit. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass sie in Sicherheit war. Er hatte das Richtige getan. Auch dessen war er sicher. Er hatte sie denen überlassen, die eigentlich seine Feinde waren, und dennoch war sie in Sicherheit.
Er dachte angestrengt nach. Eigentlich konnte es nicht sein. Aber es war so. Seine Feinde waren die einzigen, die für die Sicherheit seiner Tochter garantieren konnten. Die Otherkin, die Isistöchter.
Dana . Plötzlich stand der Name wieder vor ihm in einer leuchtenden Klarheit und Schönheit, dass es ihn wie eine kalte Klinge durchs Herz fuhr und ihm den Atem nahm. Jede Einzelheit ihres süßen Gesichtchens sah er vor sich, ihre himmelblauen Augen, die so voller Vertrauen und Liebe waren.
Die Sonne schien. Sie hatten gelacht. Und dann war alles verschwunden.
Er hätte schreien mögen. Vergeblich versuchte er, die Dunkelheit um ihn zu verscheuchen. Dennoch blieb ein Funken Erinnerung haften.
Da gab es noch andere, die ihm teuer waren. Die er warnen musste. Dagan. Alastor. Malthus. Seine Brüder. Ihn packte die kalte Furcht, als er an sie dachte. Er hatte Angst um sie. Oder hatte er Angst vor ihnen?
So verwirrt er auch war, wusste er, dass das Unsinn war.
Mit aller Kraft konzentrierte er sich darauf, die Verbindung zu ihnen aufzunehmen, die durch ihre Blutsbande bestand. Es gab so etwas wie ein telepathisches Band zwischen ihnen, nicht in der Weise, dass sie gegenseitig ihre Gedanken lesen konnten, aber stark genug, um sich bemerkbar zu machen, wenn sich einer von ihnen in Gefahr befand. Selbst über große Entfernungen hinweg.
Alles krampfte sich in ihm zusammen, als er daran dachte. Sie mussten das alles mit ihm empfunden haben – jeden Schnitt mit dem Messer, jeden Tropfen Blut, seinen Tod.
Tod? War er tot?
Es war wohl so. Es hatte ihn etwas in diese Dunkelheit gezogen. Aber wie lange war das her?
Lange genug jedenfalls, um alles zu vergessen, sogar den eigenen Tod. Aber auch seine Brüder, seinen Vater, den Namen seiner Tochter. Jetzt schien alles zurückzukommen. Ihm fiel wieder ein, dass seine Tochter da gewesen war, als sie ihn geholt hatten. Auf irgendeine Weise hatte er sie gerettet. Er erinnerte sich, dass sie ihm eine Kapuze über den Kopf gezogen hatten. Er war gefesselt gewesen. Was hatte ihn seiner Kräfte beraubt? Er hatte eine ungeheure Kraft gehabt. Er war der Sohn der mächtigsten Gottheit der Unterwelt, Sutekhs Sohn.
Es war sein Wille gewesen. Er hatte sich aus freien Stücken unterworfen. Er hatte sich für seine Tochter geopfert. Er hatte sie auch davor bewahrt, mit ansehen zu müssen, was sie dann mit ihm taten. Und er würde es, ohne zu zögern, wieder tun.
Sie hatten Handschuhe getragen, als sie sich mit ihren Messernüber ihn hergemacht hatten. Er hatte den Geruch seines Bluts noch in der Nase. In der Gewissheit, die Wunde dort zu fühlen, wo sie ihm die Haut abgezogen hatten, berührte er seine Brust mit der flachen Hand. Aber er fühlte nichts, gar nichts.
Wer waren sie gewesen? Es waren bekannte Gesichter dabei gewesen, die von Sterblichen und die von Übernatürlichen. Gahiji . Bittere Galle stieg in ihm auf, als ihm dieser Name in den Sinn kam. Er sah dessen Gesicht vor sich. Gahiji, treu ergebener Diener seines Vaters seit zwei Jahrtausenden, ein Seelensammler wie er selbst. Er war von seinesgleichen verraten worden. Gahiji war dabei gewesen, als man ihn zuerst tätowiert und dann abgeschlachtet hatte.
Sie hatten sein Blut in einer ovalen Schale aufgefangen. Er hatte dieses Bild so deutlich vor sich, dass er hätte danach greifen können. Er sah die Hände, die die Schale hielten, und den Siegelring mit einem in den Stein geschnittenen Skarabäus an einer dieser Hände. Er hatte einmal gewusst, was dieses Zeichen bedeutete, konnte sich aber nicht mehr darauf besinnen. Das Bild löste sich auf wie Rauch. Er sah nur noch die beiden von Blut triefenden Messer – triefend von seinem Blut. Er spürte den unsagbaren Schmerz.
Hatten seine
Weitere Kostenlose Bücher