Seelensunde
vergebens, dann endlich fand sie eine Handvoll Geldstücke in seiner Manteltasche. Was fehlte noch? Das Messer, um böse Geister abzuwehren. Sie nahm das, mit dem er sie angegriffen hatte, und legte es ihm auf die Brust. Dann legte sie ihm die Hände gekreuzt darüber, drei Geldstücke unter jeder Handfläche, und drehte ihm den Kopf mit dem Gesicht nach Norden.
Streng genommen hätte sie ihn in einen weißen Kimono hüllen und seine Körperöffnungen mit Mull oder Baumwollstoff verschließen müssen, aber das kam jetzt nicht infrage. Eines konnte sie immerhin noch für ihn tun. Das weiße Stirnband mit seinem kaimyo , dem Totennamen, das verhinderte, dass er jedes Mal als Geist erscheinen musste, wenn unter den Lebenden sein Name ausgesprochen wurde. Mit ihrem Messer trennte sie einen Streifen aus seinem Hemd und faltete ihn anschließend sorgfältig, bevor sie ihm ihn anlegte. Zum Schreiben hatte sie nichts dabei. Es musste so gehen.
Naphré richtete sich auf. Es war Zeit, die letzten Handgriffe zu tun und zu verschwinden. So begann sie, ihn mit der Erde, die sie an den Rand der Grube geschaufelt hatte, zu bedecken. Während sie arbeitete, konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, wie Butcher in den nächsten Tagen und Wochen aussehen würde. Die Leiche färbte sich erst grün, dann purpurn undschließlich schwarz. Der Körper würde sich aufblähen, die Augen heraustreten. Die Haut würde Blasen schlagen und aufplatzen. Und währenddessen fraßen ihn allmählich die Bakterien in seinen Därmen von innen auf. Naphré wurde schlecht, wenn sie sich das vorstellte. Sie war nahe daran, sich zu übergeben.
Ein einziges Mal war ihr das passiert, bei ihrem allerersten Job. Da hatte auch der Gedanke nicht geholfen, dass es sich bei dem Betreffenden um einen mehrfachen Mörder und ein sadistisches Schwein gehandelt hat. Sie war wie aufgelöst gewesen und hatte erwartet, dass Butcher ihr gehörig die Leviten lesen würde, weil sie wie in Panik davongelaufen war. Aber er hatte sie nur in den Arm genommen und sie still getröstet. Naphré bekam feuchte Augen, als sie sich jetzt daran erinnerte.
Endlich war die Arbeit getan. Sie fühlte sich ein wenig besser, als der Alkohol des Desinfektionsmittels, mit dem sie sich eingerieben hatte, auf ihren Händen verflog, und sie die Kühle auf der Haut spürte. Trotzdem kam sie sich mies vor. Sie glättete den Untergrund, indem sie die aufgeworfene Erde heruntertrampelte, sodass das Grab wieder aussah wie zuvor.
Nachdem sie wieder nach oben geklettert war, zögerte sie. Sollte sie noch etwas sagen? Ein Gebet sprechen für ihren Lehrer und Mentor?
Worte tauchten in ihrer Erinnerung auf, Worte, die zunächst wenig Bedeutung hatten und in ihr wild durcheinander wirbelten. Allmählich ordneten sie sich zu halbwegs sinnvollen Sätzen. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zu stillen Wassern. Das war alles, woran sie sich erinnern konnte. Nein. Ausgerechnet für Butcher nicht gerade das Passende. Butcher hatte weder mit grünender Aue noch mit stillem Wasser etwas im Sinn gehabt. In ihrer Not kramte sie ein paar abgerissene Zitate aus dem Ägyptischen Totenbuch hervor, Bruchstücke der zweiundvierzig Formeln des Glaubensbekenntnisses. Zwei oder drei der Artikel mochten auf Butcher passen, Naphré murmelte sie vor sich hin. „O du Schutzgott beider Nilquellen. Niehat der hier liegt durch zu viel Sprechen gesündigt. Nie handelte er aus Übereile. Er war weder anmaßend noch übermütig …“ Das konnte man mit Fug und Recht von Butcher behaupten. Er war ein Typ, der es nicht nötig hatte, viel von sich her zu machen.
„Na, na. Wer wird das Totenbuch so verhunzen?“
Mit einem Ruck drehte Naphré sich nach der männlichen Stimme um, die sie hinter sich gehört hatte. Noch in der Bewegung hatte sie die Pistole gezogen und zielte in die Richtung, aus der die Worte gekommen waren. Sie war fassungslos. Dass es jemandem gelingen konnte, sich so nahe an sie heranzuschleichen, ohne dass sie es bemerkt hatte! Noch größer war ihr Erstaunen jedoch, als sie niemanden entdeckte. Sie sah den Friedhof, ein paar Schatten, die sich sacht wiegenden Zweige der Weide – das war alles.
Mit einem Satz war sie hinter dem dicken Stamm des Baums, um Deckung zu suchen. Von dort spähte sie hinter jeden Grabstein, wobei die Mündung ihrer Glock ihrem Blick folgte.
„Ich würde das lassen mit der Kanone. Sie nützt doch nichts.“ Ein
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