Seelentod
Nässe verwaschen. Wenn noch Gäste im Hotel waren, hatten die sich wohl auf ihre Zimmer verkrochen. Kein Auto fuhr mehr zum Willows hoch, sie sah nur Charlies Wagen, der sich langsam entfernte. Sie nahm sich vor, freundlicher zu ihm zu sein. Über ihn herzufallen machte ihr eigentlich gar keinen Spaß. Aber für bestimmte Aufgaben war er nun mal der Beste im Team, und das hatte sie ihm auch gesagt, bevor er achselzuckend wieder in seinen fleckigen Regenmantel geschlüpft und dann aus der Lounge verschwunden war.
Sie rief Doreen zu, ihr eine Portion Pommes und vielleicht auch einen Burger zu bringen, sofern sie das in der Küche hinkriegten. Als das Essen kam, saß sie mit geschlossenen Augen in Gedanken versunken da – alles andere als entspannt, die Einfälle schlugen Purzelbäume in ihrem Kopf, Bilder kamen aus dem Nichts, stießen aneinander, verbanden sich und ergaben fast einen Sinn. Sie aß zu schnell, weil sie den Faden ihrer Überlegungen nicht verlieren wollte. Bestimmt würde sie wieder die ganze Nacht Magendrücken haben.
Später rief sie im Gefängnis von Durham an. «Ja, ich weiß, wie spät es ist. Aber es ist dringend. Ich muss Mattie Jones eine Nachricht zukommen lassen, oder noch besser, direkt mit ihr sprechen.»
Doch der Direktor ließ sich nicht erweichen. Er war an seinem freien Abend ins Gefängnis gerufen worden. Jemand hatte Selbstmord begangen, und dann waren Unruhen in einem der Flügel ausgebrochen. Sie hatten die Insassen früh eingeschlossen, weil sie hofften, auf diese Weise würde es wieder ruhig. Er ließ durchblicken, dass er nicht gewillt war, die Sicherheit seiner Wärter und Gefangenen aufs Spiel zu setzen, bloß um die Laune einer Kommissarin zu befriedigen. Vera blieb hartnäckig, aber ohne Erfolg. Es gebe doch wohl nichts, sagte er herablassend und ungerührt, was nicht auch bis morgen früh Zeit habe.
Kaum hatte sie aufgelegt, da rief Ashworth an. Hannah Lister sei wieder zu Hause, sagte er. Er wisse nicht, wo sie den Nachmittag über gewesen sei, habe sie aber ankommen gesehen. Simon sei jetzt auch da. Ob Vera wolle, dass er mit Hannah spreche?
«Nein», sagte Vera. «Für heute Abend lassen wir es mal gut sein.»
Sie stand ein letztes Mal auf und blieb vor dem Feuer stehen. Die Versuchung, zu bleiben, wo sie war, sich in dem riesigen Ohrensessel zusammenzurollen und dort einzuschlafen, war groß. Aber sie ging hinaus in die milde, dunkle Nacht, um nach Hause zu fahren.
Als sie schon halb zu Hause war, kam ihr plötzlich ein Einfall – wie eine Glühbirne, die in den Comics, die sie als Kind gelesen hatte, über dem Kopf einer Figur aufleuchtete. In den Comics, die Hector ihr gekauft hatte, weil er sie selbst gern gelesen hatte. Bei der nächsten Gelegenheit wendete sie und fuhr Richtung Südosten, an die Küste.
Tynemouth war ganz im Nebel und Nieselregen verschwunden, und sie erreichte das Städtchen mehr durch Zufall. Die Laternen auf der breiten Hauptstraße warfen kaum Licht. Es roch nach Salz und Seetang. Das Nebelhorn tutete, wie beim ersten Mal, als sie gekommen waren, um Morgan zu befragen.
In seiner Wohnung brannte kein Licht. Sie sah auf ihre Uhr. Neun Uhr abends. Das Pärchen war sicher noch nicht im Bett, dafür war es zu früh. Trotzdem klingelte sie und hämmerte gegen die Tür. Niemand machte auf. Weiter oben auf der Straße tauchte eine Gestalt im Nebel auf. Genauso groß wie Morgan, mit langem Mantel und weicher Mütze, die dem Kopf die Konturen eines kahlgeschorenen Schädels verlieh. Aber als er näher kam, sah sie, dass es nicht Morgan war. Der Mann war jünger, ein Student.
Sie wollte noch nicht aufgeben und lief durch den Ort, schaute auf der Suche nach Morgan oder seiner Freundin in alle Bars und Restaurants. Wobei sie, wie ihr mit zunehmender Verzweiflung klar wurde, wahrscheinlich wie eine Verrückte wirkte. Sie wollte doch nur eine Bestätigung, wollte, dass Morgan in seinem Gedächtnis stöberte und seine Gespräche mit Mattie Jones und Danny Shaw noch einmal durchging. Nur ein paar Worte, um dem ganzen Drama einen Sinn zu verleihen. Aber sie fand keine Spur von den beiden, und schließlich, nachdem sie es ein letztes Mal bei der Wohnung versucht hatte, ging sie zurück zu ihrem Wagen. Als sie zu Hause ankam, war es Mitternacht.
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Kapitel Siebenunddreißig
Über Nacht stieg der Wasserpegel in aller Stille an. Es ging kein Wind, der Regen prasselte nicht gegen die Fenster, doch es schüttete ohne Unterlass.
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