Seelentod
pflückte Blumen, die sie später in einem angeschlagenen Emaillekrug auf die Fensterbank stellten. Sie kamen an einer Stelle vorbei, wo kleine, weiße Kieselsteine zu einem Hügel aufgeschichtet waren. Es sah aus wie ein Grabmal, auf das jemand liebevoll ein Sträußchen Schlüsselblumen niedergelegt hatte. Abends schlief Alice im unteren Alkoven sofort ein, und Connie las noch etwas beim Licht einer Petroleumlampe, lauschte dem Regen und stellte sich vor, sie wäre zu Hause im Schuppen ihres Vaters.
Am nächsten Tag regnete es, und Alice war schlecht gelaunt und maulte herum. Einen Fernseher, um ihr die Zeit zu vertreiben, gab es nicht. Connie hätte gern Veronica angerufen, doch der Akku ihres Handys war leer. Sie hatte das Ladegerät zwar dabei, aber natürlich gab es in dem Bootshaus keinen Strom. Auf dem Tisch lag eine Schachtel mit Brettspielen, und sie spielten «Mensch ärgere dich nicht» und «Fang den Hut». Der Regen prasselte aufs Dach, und Alice presste sich die Hände auf die Ohren.
«Ich will nach Hause! Es ist schrecklich hier!»
«Morgen», sagte Connie. «Morgen kommt Tante Veronica, und dann können wir wieder nach Hause. Und vielleicht möchtest du danach ja ein paar Tage zu deinem Daddy fahren.»
Im Bootshaus gab es keinen Kühlschrank, und die frischen Sachen hatten sie alle schon aufgegessen. Connie kochte Nudeln und mischte eine Dose Thunfisch unter. Zum Nachtisch ließ sie Alice einen ganzen Riegel Schokolade essen. Als die Kleine schlief, kletterte Connie in ihr eigenes Bett und legte sich flach auf den Rücken; sie lag lange wach. Sie dachte: Genauso muss es sich anfühlen, wenn man im Gefängnis ist. Allerdings, nahm sie an, gäbe es im Gefängnis bestimmt lauter merkwürdige, angsteinflößende Geräusche. Hier dagegen war es vollkommen still. Schließlich schlief sie ein.
Am nächsten Morgen wachte sie schon in der Dämmerung auf, die Augen voller Schlaf und immer noch müde. Die Vorhänge vor den Fenstern waren ganz fadenscheinig, und selbst von ihrem Alkoven aus sah das Licht irgendwie seltsam aus. Es war, wie wenn man aufwachte und draußen lag Schnee: Das Licht war heller, als es eigentlich sein dürfte. Leise stand sie auf, legte sich die Bettdecke um die Schultern und schaute hinaus. Über Nacht war der Pegel des Sees angestiegen, und das ganze Bootshaus war von Wasser umgeben. Kleine Wellen plätscherten sanft gegen die Veranda. Es war ganz still, und am gegenüberliegenden Ufer spiegelten sich die Bäume klar und ruhig im Wasser.
Sie erkannte sofort, dass sie nicht unmittelbar in Gefahr waren, zu ertrinken, dennoch spürte sie, wie Panik sich in ihrem Magen breitmachte und sie fast aufschreien ließ. Sie sah, wie wunderschön das alles war – das sich spiegelnde Licht, das Bild der Bäume und Hügel im Wasser –, aber das konnte ihre Angst nicht mindern. Die Vorstellung, eingesperrt zu sein, war Wirklichkeit geworden. Sie verstand plötzlich, wie Menschen in einem brennenden Gebäude in eine solche Verzweiflung geraten konnten, dass sie in den sicheren Tod sprangen. Es war nicht die Angst vor den Flammen, dachte sie, sondern davor, in der Falle zu sitzen. Sie selbst konnte nur schlecht schwimmen, doch die Versuchung, aus der Tür zu treten und ins Wasser zu gleiten, war beinahe unwiderstehlich.
Sie hörte ein Geräusch hinter sich, und da entfuhr ihr ein angstvolles Wimmern. Vielleicht war das ja eine Ratte. Sie hatte gehört, dass Ratten bei Überschwemmungen aus ihren Nestern getrieben wurden. Konnten Ratten schwimmen? Aber es war nur Alice, die aus ihrem Bett gekrochen war und nun fröstelnd neben ihr stand. Und jetzt musste Connie ein Abenteuer aus ihrer Notlage machen.
«Ist das nicht aufregend! Fast, als wären wir auf einem Schiff. Wohin sollen wir heute Vormittag segeln?»
Doch ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren verzweifelt. Alice kletterte auf ihren Arm und fing an zu weinen.
Sie hatten gerade gefrühstückt, da hörte Connie den Wagen näher kommen. Sie waren so weit von jeglicher Zivilisation entfernt, ganz versteckt hinter den Bäumen, dass das Geräusch weithin zu hören war und ihr sehr laut vorkam. Gestern noch hätte sie sich Sorgen gemacht, das könnte die Polizei sein. Die fette Kommissarin mit den riesigen Händen und schmutzigen Füßen und den ganzen Fragen. Jetzt wäre sie sogar froh gewesen, Vera Stanhope zu sehen. Aber vielleicht war es ja auch Veronica. Immerhin gehörte das Grundstück ihr. Das Bootshaus musste auch früher
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