Seelentod
schon mal unter Wasser gestanden haben. Sie würde wissen, was zu tun sei. Connie lehnte sich aus dem Fenster und erhaschte durch die Äste einen Blick auf das Auto. Ihr Wagen war das nicht. Es hatte die falsche Farbe, und ihr kleiner Nissan würde es auch gar nicht durch das Wasser schaffen. Aber es konnte trotzdem Veronica sein.
Es war immer noch früh im Jahr, und die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel. In diesem Licht war die Gestalt am Ufer nicht mehr als eine Silhouette, die plötzlich vor der alten Gartenmauer auftauchte. Vielleicht war das Auto stecken geblieben, vielleicht hatte der Fahrer auch beschlossen, den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. Connie musste die Augen zusammenkneifen, um in der Gestalt überhaupt einen Menschen auszumachen. Einen Schemen mit Regenjacke und Gummistiefeln. Mehr erkannte sie nicht.
Ein kleines Boot, das vorher am Ufer gelegen hatte, trieb jetzt an seinem Seil auf dem Wasser. Der Mann zerrte an dem Seil und zog das Boot zu sich heran. Es ist ein Mann, dachte Connie. Die Bewegungen sahen zu kraftvoll und entschlossen aus, als dass ihr Besucher eine Frau sein könnte.
Sie rief Alice zu: «Schau nur, Schätzchen, jetzt werden wir gerettet.» Und sie winkten beide wie verrückt. Der Mann am Ufer hob bloß die Hand zum Gruß.
Nun hatte er das Boot ans Ufer gezogen und ein Paar Ruder hervorgeholt, die unter dem Sitz verstaut gewesen sein mussten. Er schob das Boot zurück ins Wasser und watete bis zu den Knöcheln selbst hinein, dann kletterte er an Bord.
Er ruderte auf sie zu, drehte immer kleinere Kreise um das Bootshaus. Jetzt befand er sich nicht mehr im Gegenlicht, aber als er nah genug gekommen war, saß er mit dem Rücken zu ihnen, und Connie konnte immer noch nicht sehen, wer es war. Selbst als er sie erreicht hatte und das Seil an einem der Pfosten festmachte, aus denen die Verandabrüstung bestand, erkannte sie ihn noch nicht. Dann war ihre Aufmerksamkeit abgelenkt, sie stopfte all ihre Sachen in eine Tasche und vergewisserte sich, dass Alice bei ihr blieb und nicht zu nah ans Wasser ging.
«Warten Sie bitte einen Augenblick!», rief sie, und ein Teil der Panik kehrte zurück. Auch wenn das lächerlich war, denn ihr Retter würde jetzt doch nicht ohne sie ans Land zurückrudern.
Sie hörte, wie er auf die Veranda des Bootshauses kletterte. Die Holzplanken knarzten und das Wasser platschte, als er sein Gewicht aus dem Boot hievte, dann hörte sie Schritte. Er stand in der Tür, und jetzt sah sie ihn zum ersten Mal richtig und erkannte ihn. Dieses Gesicht hatte sie schon einmal gesehen.
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Kapitel Vierzig
Vera sagte sich, dass es keinen Grund zur Eile gebe. Die Sozialarbeiterin und ihre Tochter waren im Bootshaus. Das war bestimmt ein Abenteuer für sie, wie wenn man in der Wildnis zeltet. Die Kleine genoss wahrscheinlich jede Minute. Vera selbst hatten solche Abenteuer gut gefallen, als Hector angefangen hatte, sie auf seine Ausflüge mitzunehmen. Erst als sie älter wurde und begriff, was die nächtlichen Raubzüge durch die Berge bedeuteten, begann sie, sie abzulehnen und schließlich zu verabscheuen. Vielleicht fuhr sie ja deswegen so schnell: Sie wollte nicht, dass die Kleine eines Tages ähnliche Erinnerungen an ihre Kindheit hatte wie sie – die Angst in der Magengrube, und die Sehnsucht nach der vertrauten Umgebung zu Hause. Denn Hector wurde immer gejagt: von der Polizei, den Hütern des Nationalparks, dem Vogelschutzbund. Er ging ganz in seiner Leidenschaft auf und ergötzte sich an dem Katz-und-Maus-Spiel. Dass Vera vor Angst schier umkam, scherte ihn nicht.
Als Vera noch ein paar PS mehr aus dem alten Land Rover herauskitzelte, verspürte sie eine mulmige Erregung. Kurz vor dem Abzweig durch die Steinpfosten mit den gemeißelten Kormoranen stand die Straße unter Wasser. Auf einem Schild hieß es:
Straße wegen Überflutung gesperrt.
Ein älterer Herr versuchte, auf der schmalen Fahrbahn in drei Zügen zu wenden. Oder eher in vierzig Zügen. Vera legte den Allradantrieb ein, fuhr mit zwei Reifen auf die steile Böschung, bis der Wagen sich in einem 45-Grad-Winkel zur Straße neigte, dann drückte sie sich mit aufheulendem Motor an dem Volvo des Rentners vorbei. Das Wasser stand schon so tief, dass es durch die Türen sickerte. Sie war sich nicht sicher, ob der alte Herr sie überhaupt bemerkt hatte, bis die Gischt, die sie erzeugten, auf seine Windschutzscheibe spritzte. Joe Ashworth neben ihr stieß einen Fluch aus.
Der
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