Seelentod
Jones ist die junge Frau, die ihr Kind umgebracht hat. Sie haben davon bestimmt in den Nachrichten gehört. Es hat viel Aufsehen erregt. Hat Ihre Mutter das damals nicht erwähnt?»
Ein kurzes Schweigen. «Doch, ich erinnere mich. Das war eins der wenigen Male, wo ich Mum wütend gesehen habe. Sie ist aufgestanden und hat den Fernseher ausgemacht. Sie hat gesagt, es sei einfach unerträglich, wie die Medien die Beteiligten verteufelten – Mattie und die Sozialarbeiterin. Die würden so tun, als wäre alles ganz einfach, aber dieser Fall sei alles andere als einfach.» Hannah schloss die Augen und lächelte matt. In diesem Moment schien ihre Mutter für sie wieder am Leben zu sein.
«Hat Jenny je über ein Buch gesprochen, das sie schreiben wollte?»
Wieder lächelte Hannah. «Sie hat die ganze Zeit von ihrem Buch gesprochen, aber ich glaube nicht, dass sie je mit dem Schreiben angefangen hat.»
«Was meinen Sie damit?» Um das Mädchen nicht unter Druck zu setzen, um nicht zu zeigen, wie wichtig die Antwort unter Umständen war, rappelte Vera sich hoch und setzte Wasser auf.
«Das war ihr Traum. Zu schreiben.»
«Sie meinen Erzählungen und so was?» Immer noch mit dem Rücken zu Hannah ließ Vera Teebeutel in eine Kanne fallen.
«Nein! Sie hat gesagt, als Romanautorin würde sie nichts taugen. Sie wollte so eine Art Einführung in die Sozialarbeit schreiben. Mit echten Fällen – wobei die Betroffenen natürlich anonym bleiben sollten –, damit die Leute begreifen, unter was für einem Druck die Sozialarbeiter stehen und in was für Zwickmühlen sie stecken.»
Vera stellte einen Becher Tee vor Hannah auf den Tisch und angelte in einer Dose nach ein paar Keksen.
«Ich glaube, dass sie mit dem Schreiben schon angefangen hat», sagte Vera. «Auf jeden Fall mit den Recherchen. Sind Sie sicher, dass sie zu Hause nicht daran gearbeitet hat?»
«Sicher bin ich mir nicht, nein. Wir haben beide unser eigenes Leben geführt. Sie hat immer viel an ihrem Laptop gesessen. Vielleicht wollte sie ja mit dem Schreiben anfangen, ohne dass es jemand weiß. Ist doch so, wenn man über seine Träume spricht: Die Leute erwarten dann was von einem, setzen einen unter Druck. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie es fertiggestellt, ja dass sie sogar gewartet hätte, bis sie einen Vertrag mit einem Verlag hat, bevor sie’s mir erzählt hätte. Dann hätte es geheißen: Tada, schau her, was ich geschafft habe! Und zur Feier des Tages hätte sie eine Flasche Schampus geköpft.» Hannah blickte auf, ihre Augen glänzten genauso fiebrig wie vorhin die von Mattie. «Aber das wird jetzt nicht passieren, nicht wahr?»
«Hätte sie alles direkt in den Laptop geschrieben?» Im Bericht der IT -Leute, die die Dateien auf dem Computer schon gesichert hatten, stand nämlich nichts von derartigen Dokumenten.
«Nein, wahrscheinlich nicht. Sie hat immer noch mit der Hand geschrieben, sie hat sogar noch Briefe geschrieben! Richtige Briefe, immer zu Weihnachten, an ihre Freunde und die alten Tanten. Das war auch so ein Ratschlag, den sie mir für die Aufsätze in der Schule gegeben hat: Wenn du nicht weiterweißt, schreib es erst mal mit der Hand auf. Dein Kopf und der Stift sind direkt miteinander verbunden. Bei mir hat das nie geklappt, aber bei ihr bestimmt.»
«Wir suchen also nach einem Notizbuch.» Vera sprach mehr zu sich als zu dem Mädchen, doch Hannah antwortete ihr.
«Ja, genau! DIN A4, gebunden. Die hat sie in so einem altmodischen Schreibwarenladen in Hexham gekauft. Hat sie immer für die Arbeit genommen. Wieso? Ist das wichtig?»
Es könnte uns helfen, herauszufinden, wer deine Mutter umgebracht hat. Aber das sprach Vera nicht aus. Sie lächelte nur und goss ihnen noch Tee ein.
«Hat Holly Sie nach der Handtasche Ihrer Mutter gefragt?» Sie saßen weiter am Tisch, zwischen sich die Teekanne.
«Ich glaube nicht.»
Natürlich nicht. Eine Mischung aus Ärger und Befriedigung. Wenn sie Holly das nächste Mal sah, hatte sie einen Grund, sie zusammenzustauchen.
«Die haben wir nämlich noch nicht gefunden», sagte Vera, «und sie könnte von Bedeutung sein. Können Sie sie mir beschreiben? Und hat Jenny eine Aktentasche besessen?»
«Die Handtasche war so groß, dass sie ihre ganzen Unterlagen da hineinbekommen hat, eine Aktentasche hat sie nicht gebraucht.» Plötzlich lächelte Hannah. «Sie hat sie sehr gemocht. Sie war aus weichem, rotem Leder.»
«Und die Notizbücher, von denen Sie gesprochen haben, hätte sie die
Weitere Kostenlose Bücher