Seelentraeume
Richtung.
Charlotte blieb vor dem Zugang zur Terrasse stehen und warf einen Blick auf die Festversammlung. Die Leute, ihre Kleider, ihren Schmuck … Erregung traf sie wie ein elektrischer Schlag. Sie hatte so etwas schon Dutzende Male gemacht, trotzdem ließ das Lampenfieber niemals nach.
Da trat Sophie vor und übergab dem Ausrufer eine Karte mit ihren Namen und Titeln. Der Mann nahm sie, das Kind kehrte an seinen Platz neben Charlotte zurück. Sophie wirkte eine Spur blasser als zu dem Zeitpunkt, da sie dem Phaeton entstiegen waren. Armes Kind.
Charlotte legte Sophie einen Arm um die Schulter. »Alles wird gut«, flüsterte sie. »Atme und halte den Kopf oben. Denk immer daran – Haltung. Du gehörst hierher. Es ist dein gutes Recht, hier zu sein.«
Sophie schluckte.
»Baronesse Charlotte de Ney al-te Ran und Sophie al-te Mua«, verkündete der Ausrufer.
»Da ist sie!«, rief Lady Olivia.
Jeder Kopf auf ihrer Seite der Terrasse wandte sich dem Eingang zu. George blinzelte, als Charlotte eintrat. Sie trug ein glänzendes, eng anliegendes zartblaues Kleid. Ein
sehr eng anliegendes
Kleid, das jede ihrer Kurven betonte, bevor es sich zu einem bodenlangen weiten Rock entfaltete. Es war George fast ein wenig peinlich, sie so zu sehen. Das Oberteil wies braune Streifen auf, die an den Seiten schmaler und an dem ebenfalls blauen Rock breiter wurden und die dünnen, gebogenen Zweige eines Apfelbaums imitierten. An den Zweigen weiße Blüten mit silbernen Akzenten. Eine schlichte Silhouette, obwohl die Farben, der Schnitt und das Muster ein ebenso elegantes wie raffiniertes Ganzes ergaben. Und Charlotte schwebte darin mit ihrem hellblonden Haar und den grauen Augen einher wie die Frühlingskönigin höchstpersönlich.
George vernahm ein Dutzend Frauen, die bemerkten, dass sie soeben in den Schatten gestellt wurden, kaum hörbar nach Luft schnappen.
Er riskierte einen Blick auf Richard. Der Mann stand reglos und ließ Charlotte, die gerade hereinkam, nicht aus den Augen. In diesem Moment sah Richard trotz des neuen Gesichts kein bisschen wie Casside aus. Seine Miene verriet gemischte Gefühle, Verzweiflung, Leidenschaft, Sehnsucht, die eine halbe Sekunde vorhielten und ihn zu quälen schienen, dann fiel Richard in seine Rolle zurück, wie jemand morgens ein frisches Hemd anzog, und war wieder Casside. Offenbar vermisste er sie sehr.
George wandte sich wieder Charlotte zu und vergaß zu atmen. Drei Schritte hinter ihr kam zu ihrer Linken Sophie über die Terrasse.
Seine Welt blieb stehen.
Sie trug ein fließendes, oben gerafftes, von einer Schärpe gehaltenes und in einen langen, leichten Rock auslaufendes hellgraues Kleid mit einer Spur Blau. Er hatte dieselbe Farbe gesehen, wenn sie ihr Schwert aus der Scheide zog. Das Kleid schimmerte im Gehen, glatt, fließend, als sei der Stahl ihrer Klinge lebendig geworden und habe sich über sie ergossen wie eine Flüssigkeit, die sich mit jeder Bewegung veränderte.
Er sah ihre anmutige Nackenlinie.
Ihr dunkles Haar und die hellblaue Blüte darin.
Ihr Gesicht.
Sie war wunderschön.
Dann ging ihm auf, dass er dastand wie ein Vollidiot. Sofort klappte er seinen dümmlich offen stehenden Mund zu.
Im nächsten Moment war Charlotte bei ihnen. Dero Gnaden umarmte sie freundlich. »Meine Liebe, ich hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben.«
»Solange es in meiner Macht steht, werde ich Sie niemals enttäuschen.« Charlotte lächelte.
»Und Sie haben Sophie mitgebracht.« Dero Gnaden breitete die Arme aus, und Sophie umarmte sie. »Wie können Sie diese schöne Blume nur in Ihrem Landhaus verstecken?«
»Weil die Blumen auf dem Land am schönsten blühen«, gab Charlotte zurück.
»Oh bitte.« Lady Olivia machte eine wegwerfende Geste, auf die jeder Spitzentänzer stolz gewesen wäre. »Es ist an der Zeit, dass das Kind die große Welt kennenlernt.«
»Verzeihung, Lord Camarine?«
Als ein weiblicher Singsang an sein Ohr drang, drehte George sich um und sah Lady Angelia Ermine in einem hellen taubenblauen Abendkleid neben sich stehen. Ihr karamellbraunes Haar fiel in einem Sturzbach aus Locken über die linke Seite und lenkte so die Aufmerksamkeit auf ihre zarte Schulter und den langen Hals. Sie war recht attraktiv, stellte George gleichgültig fest. Auch sie profitierte vom Handel mit Sklavinnen und nahm ihnen die Möglichkeit, später Kinder zu bekommen.
Ihr Begleiter, ein geschniegelter, eleganter blonder Mann in einem maßgeschneiderten rostroten Wams, lächelte
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