Seelentraeume
Panoramafenster des Phaetons vor. Vor ihnen erstreckte sich ein breiter Strom, in dessen stillem Wasser sich golden und perlmuttfarben der prachtvolle Sonnenuntergang spiegelte. Eine flache Brücke überspannte den endlos breiten Fluss, und in der Mitte der Brücke ragte ein Schloss aus dem Wasser.
Sophie holte scharf Luft.
Das Schloss Pierre de Rivière erhob sich vor ihnen wie ein stattliches Gebirge aus cremefarbenem Stein gehauener Gebäude … Die zahllosen Terrassen und Balkone inmitten grüner, in Pflanzungen wachsender Bäume glühten förmlich im Sonnenlicht. Schlanke, schmucke Türme griffen nach dem Himmel. Hinter Mauern, versehen mit reliefierten Brüstungen und gemeißelten Verzierungen, blickten riesige Fenster in die Welt. Es schien, als schwebe der gewaltige Bau über dem Wasser.
»Wunderschön«, flüsterte Sophie.
»Ich hatte gehofft, dass es dir gefällt. Das Schloss ist eines der Wunder des Kontinents.«
Der Phaeton erreichte die Brücke. Alarmiert reckte der Wolfripper-Hund den zottigen Kopf.
»Alles gut«, teilte Charlotte ihm mit.
Sie hatte vorgeschlagen, den Hund auf dem Camarine-Anwesen zu lassen, doch Sophie hatte ihn gekrault und sie angesehen, als hätte sie gerade vorgeschlagen, ihr einen Arm abzuschneiden. Und im Angesicht von zwei Paar Welpenaugen hatte Charlotte kapituliert, allerdings auf einer Leine, einem Bad und geschorenem Fell bestanden. Natürlich hatte das den Hund nicht in ein Schoßhündchen verwandelt. Er sah immer noch aus, als würde er Wölfe durch den Wald hetzen. Nun würden sie mit ihm Gassi gehen müssen und er würde ihnen vermutlich ständig im Weg sein, aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern.
Über ihren Köpfen hallte ein schriller, verzweifelter Schrei. Wie ein Gesang aus den Wolken.
»Schau!« Charlotte deutete auf ein vom Himmel fallendes hellgrünes Licht.
Der Lichtpunkt sank und wuchs zu einer riesigen geschuppten Gestalt mit gewaltigen Flügeln heran. Der Flugdrache umkreiste das Schloss, die Kanzel auf seinem Rücken spiegelte die Sonne. Dann gesellte sich noch einer dazu und noch einer … Einer nach dem anderen landeten sie vor dem Schloss.
»Die Elite beider Königreiche wird kommen.« Charlotte seufzte. »Bist du aufgeregt?«
Sophie nickte.
»Das freut mich so, genieß es«, beschied Charlotte sie. »Das ist Magie.«
Sie hatten hier zu tun, aber fürs Erste würde sie einfach dasitzen und zuschauen, wie diese Wunderwelt sich in den Augen des Kindes widerspiegelte und Sophie für ein paar kurze Momente wieder fünfzehn sein und in einem Phaeton zu ihrem ersten Ball fahren durfte.
Die Brücke führte unter dem Fallgitter hindurch auf die das ganze Schloss umgebende Durchgangsstraße. Der Phaeton schwenkte nach rechts auf einen Seitenweg und blieb schließlich vor einer großen Freitreppe im Burghof stehen. Auf der untersten Stufe wartete ein Bekannter, der mit einem Adligen in einem dunklen Wams sprach. Brennan, erkannte Charlotte.
Ihr Fahrer öffnete die Tür, und Charlotte stieg aus.
»Charlotte!«, rief Angelia.
Oh, Mutter der Morgenröte
. »Angelia!«
Angelia Ermine glitt in ihr Blickfeld. »Ich bin ja so froh, dass du es einrichten konntest.«
An der Treppe drehte sich Brennan um. Dann blieb sein Blick an ihnen kleben. Er lächelte dem Mann zu, mit dem er gesprochen hatte und kam mit großen Schritten auf sie zu.
Charlotte erfasste Sorge. Sie gab vor, Angelia zuzuhören. Charlotte trug eine Tunika und Hosen aus Seide in einem wunderschönen Grünton. Die Kleidung war hauteng und nur eine Spur anzüglich, was sie nach den Maßstäben der Gesellschaft ziemlich sittsam erscheinen ließ. Charlotte hatte nicht damit gerechnet, Brennan bereits beim Aussteigen aus dem Phaeton zu begegnen, doch die Möglichkeit hatte immerhin bestanden, deshalb hatte sie sich genau für diese Gelegenheit angezogen.
»Angelia«, sagte Brennan.
Die andere Frau wirbelte verblüfft herum. »Robert …«
»Meine Liebe, ich bin entrüstet.« Brennan nahm Angelias Hand und küsste ihre Finger. »Sie haben mich des Vergnügens beraubt, Sie zu begleiten. Man könnte beinahe denken, ich hätte Sie verärgert.«
Angelia blinzelte. »Aber gewiss nicht.«
»Wer ist Ihre Freundin?«
Angelia setzte ein bezauberndes Lächeln auf. »Charlotte de Ney al-te Ran.«
Nun blinzelte Brennan. Der Name hatte offenbar die gewünschte Wirkung.
»Charlotte, Lord Robert Brennan.«
Charlotte knickste. »Euer Hoheit.«
»Oh, bitte, nein, keine Titel.« Brennan winkte
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