Seelentraeume
Gehweg plumpste. Sein Mund öffnete sich klaffend zu einem Schreckensschrei, zu dem er aber nicht mehr kam. Stattdessen fegte Sophie an ihm vorüber, und er brach zusammen. Der zweite Schurke wich zurück, warf die Arme in die Luft und floh in die Nacht.
Sophie zog ein Tuch aus ihrer Tunika und wischte damit das Blut von ihrer Klinge.
Charlotte betrachtete den Toten. Ihm war mehr angetan worden, als sie je vermocht hätte. Ein Kind hatte seinem Leben ein Ende gesetzt und schien darüber vollkommen ungerührt.
»Komm.« Charlotte eilte zu ihrem Fahrzeug. »Macht es dir Spaß zu töten, Sophie?«
»Ich mag die Schatten.«
»Schatten?«
Als sie den Phaeton erreichten, leckte ihr der Wolfripper die Hand. Charlotte brachte ihn nach hinten, dann stiegen sie ein. Sophie startete den Phaeton, und sie rollten in die Nacht.
»Ich folge dem Pfad des Blitzschwerts. Als Kriegerin stehe ich zwischen Licht und Finsternis. Man kann das nur schwer erklären.«
»Es wäre schön, wenn du es trotzdem versuchen würdest.«
Sophie zog die Stirn kraus, ihr vom goldenen Lichtschein der Armaturen erhelltes Profil hob sich scharf vom Nachthimmel ab. »Der Tod spielt keine Rolle. Es kommt ganz allein auf den Moment der Entscheidung an. Mein Pfad ist eine Linie. Der Weg des Gegners ist eine andere. Im Moment unserer Begegnung werden wir für immer verändert. Für einen kurzen Augenblick, bevor der Kampf beginnt, existieren wir im selben Raum, in dem es von Möglichkeiten wimmelt. Das ist der Moment, in dem ich wirklich lebe. Kurz, immer viel zu kurz.«
Eine Erinnerung trat vor Charlottes inneres Auge. Sie war sechzehn, nahm während einer gemeinsamen Feier mit einem anderen College an einer Tanzveranstaltung teil. Als sie so dastand und mit ihren Freundinnen plauderte, fühlte sie sich von einem älteren Jungen auf der anderen Seite des Saals beobachtet. Und in dieser Sekunde, als ihre Blicke sich trafen, stand ihr plötzlich eine Unzahl Möglichkeiten vor Augen: Der Junge konnte zu ihr herüberkommen, mit ihr reden, etwas konnte seinen Anfang nehmen … ein süßer Nervenkitzel, ein wenig beunruhigend, aber auch erregend. Bloß dass Sophie dasselbe im Kampf fand und süchtig danach war.
So etwas vermochte sich nicht mal ansatzweise zu heilen
.
»Und jetzt?«, wollte Sophie wissen.
»Als Nächstes bereiten wir uns auf die Hochzeit des Großen Thans vor. Wir müssen packen und in drei Tagen aufbrechen. Bis dorthin sind wir mindestens einen Tag unterwegs. Wir müssen darauf achten, dass wir weder zu früh noch zu spät ankommen. Pierre de Rivière wird dir gefallen. Ich war zum ersten Mal in deinem Alter dort, das Schloss ist wirklich wunderschön. Wir gehen zu der Hochzeit, ich versuche Brennans Interesse zu wecken und eine Verbindung zwischen dem Jäger und Maedoc herzustellen.« Allerdings hatte sie noch keine wirkliche Vorstellung, wie sie das anfangen sollte.
Der Gedanke an die Hochzeit bereitete ihr Unbehagen. Mit eiskalter Faust hielt die Sorge ihr Herz fest im Griff. Was, wenn ihr oder Richard etwas zustieß? Das alles war kein Spiel. Wenn sie strauchelten, würde Brennan sie beide töten.
Charlotte erkannte, dass sie nicht tun wollte, was ihr bevorstand. Und dass sie Angst davor hatte. Am liebsten wäre sie mit Richard in seine Hütte im Wald zurückgelaufen und hätte dort so getan, als wäre das alles niemals passiert. Was sie nun tun musste, lastete wie ein Stein auf ihrer Seele. Am liebsten wäre sie einfach davongerannt.
»Spider wird auch da sein«, bemerkte Sophie. »Auf der Hochzeit.«
»Und du wirst ihn dort nicht töten?«
»Und wenn ich’s könnte?«
»Erzähl mir, was Spider tut.«
»Er ist Agent der Hand und Anführer einer Crew der Hand«, erklärte Sophie.
»Die Leute, die er befehligt, sind auf monströse Weise modifiziert. Ich finde es sehr unwahrscheinlich, dass er alleine anreist. Sieh mich an, Sophie.«
Das Mädchen wandte Charlotte ihr Gesicht zu.
»Versprich mir, dass du ihn nicht töten wirst. Ich habe so großes Vertrauen in dich gesetzt, sag mir, dass du mich nicht enttäuschen wirst.«
»Das werde ich nicht«, gab Sophie zurück. »Sie waren sehr nett zu mir. Sie müssen sich keine Sorgen machen, Lady Charlotte. Ich werde mein Versprechen halten.«
15
Der Langstrecken-Phaeton schoss aus dem Wald. Es war Zeit, Sophie zu wecken. Charlotte berührte ihre Hand, worauf das Mädchen sofort hellwach war.
»Schau mal nach draußen«, sagte Charlotte.
Sophie beugte sich zu dem
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