Seelentraeume
Trinken wir was, mein Freund.«
Richard wollte sich in Bewegung setzen, doch seine Füße schienen am Boden festgewachsen zu sein.
»Komm schon«, drängte Lorameh. »An der frischen Luft und mit einem Glas Wein wird es dir besser gehen.«
Hier stehen zu bleiben und die beiden zu beobachten würde höchstens bewirken, dass er womöglich alles aufs Spiel setzte. Richard wandte sich also ab, zerbrach die Kette aus Eifersucht und Seelenpein, die ihn hier festhielt, und ging mit Lorameh ins Schloss, wo die Getränke serviert wurden.
Charlotte wackelte in der Porzellanschüssel mit den Zehen. Mit bloßen Füßen auf dem alten Steinboden zu tanzen war nicht eben die angenehmste Erfahrung. Zweimal war sie auf einen harten Kiesel getreten, und der Schmutz des Steinfußbodens, der zuvor gründlich gereinigt worden war, hatte sich trotzdem für alle Zeiten in ihre Fußsohlen eingegraben. Sie hatte ihre Füße eingeseift, geschrubbt und versuchsweise sogar mit Bimsstein gescheuert, doch der Dreck wollte nicht weichen. Schließlich hatte sie beschlossen, sie einzuweichen.
Das lief ja besser als gedacht. Zuerst hatte sie auf Brennan Eindruck gemacht und dann auch auf die Marchesa. Brennan war ausgesprochen besitzergreifend. Nach dem Tanz hatte er sie einen Augenblick zu lange festgehalten und schien auch danach nicht gewillt, von ihrer Seite zu weichen. Schließlich hatte sie sich entschuldigt und den Waschraum aufgesucht. Er wartete draußen, aber sie setzte darauf, dass ein Vetter des Königs nicht lange allein bleiben würde. Als sie ihm heimlich entschlüpft war, hatten ihn eine Handvoll Damen aus Louisiana umringt.
Sie fand Sophie am Tisch von Spider-Sebastian, wo sie aufmerksam lauschte, während er mit einem älteren Herrn und seiner Entourage gewisse Aspekte der Politik Louisianas erörterte. Schon während sie gute Nacht sagten und sich für die zahllosen erhaltenen Komplimente bedankten, legte sich Charlotte eine verheerende Strafpredigt zurecht, die sie, kaum dass sie ihre Unterkunft betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatten, vom Stapel ließ. Sophie hörte ihr bis zum Ende zu, umarmte sie dann und sagte: »Danke, Sie sind die Beste.« Anschließend verschwand sie in ihrem Zimmer.
Charlotte stand an der Tür und starrte sie noch eine Zeit lang an. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, also ging sie duschen. Und nun weichte sie ihre Füße ein.
Charlotte ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. Sie war umgeben von Ruhe und Dunkelheit. Die Glastüren zum Balkon standen offen, der Nachtwind wehte durch die weißen Gazevorhänge. Am Himmel schien ein großer, bleicher Mond und erhellte das steinerne Balkongeländer. Dahinter floss, das Mondlicht reflektierend, der Strom.
Wie war sie bloß hierhergelangt? Noch vor acht Wochen war sie die Charlotte gewesen, die ihr einfaches Leben im Edge führte. Und nun gehörte sie zu den Gästen einer königlichen Hochzeit, und ihr Name war in aller Munde. Sie dachte an Lady Augustine. Ihre Adoptivmutter wäre sicher nicht damit einverstanden, ihren Namen überall hinauszuposaunen. Sobald ihre Adoption bekannt wurde, würden sich alle, die auf der Gesellschaftsleiter nach oben wollten, auf sie stürzen. Allerdings wäre ihr Name dann ihr geringstes Problem. Sie hatte den Eid gebrochen. Lady Augustine wäre sicher entsetzt, wenn sie wüsste, wie tief ihr Augenstern gesunken war.
Plötzlich fiel ein Seil vom Himmel bis zum Balkon.
Charlotte blinzelte.
Das Seil war noch da.
Dann glitten Füße in schwarzen Stiefeln in ihr Blickfeld, dann lange Beine, gefolgt von schmalen Hüften, einer muskulösen, in dunklen Stoff gehüllten Brust. Richard!
Charlottes Herz klopfte. Als sie aufstehen wollte, verspritzte sie Wasser über den weichen, weißen Teppich. Verflucht! Jetzt fluchte sie auch noch innerlich. Großartig.
Charlotte trat aus dem Fußbad und huschte auf Zehenspitzen zum Balkon.
In diesem Moment landete er auf dem Geländer.
»Was machst du hier?«, zischte sie vernehmlich.
»Ich musste dich sehen.«
»Was? Schwing dich lieber wieder an dein Seil. Du wirst noch alles verderben.«
»Brennan ist nicht alles.«
Die Verzweiflung stand ihm scharf, fast entstellend ins Gesicht geschrieben.
»Was hast du?«, flüsterte sie. »Ist was passiert? Bist du verletzt?«
Er sprang vom Geländer, zog sie ins Zimmer und umklammerte sie. Sein Mund fand ihren, heiß, besitzergreifend und fordernd. Dann küsste er sie, als würde er sie nie wieder sehen.
Einen Moment lang
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