Seelentraeume
Ihnen den Rioga tanzen zu dürfen
.
Charlotte blinzelte. Der Rioga war eine alte Tradition. Dabei gab man die Tanzfläche frei, damit ein einzelnes Paar – dessen ein Teil von königlichem Geblüt, aber nie der regierende Monarch selbst war – allein tanzen konnte. Dieser Tanz war die offizielle Einleitung des Balls und ein Vorrecht, für das die meisten Frauen hier im wahrsten Sinne des Wortes gemordet hätten.
»Wie es scheint, werde ich den Rioga tanzen«, sagte Charlotte.
»Glückwunsch.« Sebastian neigte den Kopf. »Eine große Ehre.«
Ehe er sich wieder aufrichtete, machte Sophie ihr neue stumme Zeichen.
Was wollte sie ihr bloß sagen
?
»Macht Platz für den Großen Than!«, bellte der Ausrufer.
Charlotte knickste. Die Adligen ringsum verneigten sich wie ein Mann.
Aus den Türen ergoss sich eine vom Großen Than, einem Riesenbären von einem Mann mit einer vollständig silbergrauen Mähne, angeführte Prozession. Die Marchesa von Louisiana, seine zukünftige Braut, die neben ihm ging, wirkte dagegen geradezu winzig. Sie war lediglich fünf Jahre jünger als er, bewegte sich jedoch mit der Anmut einer weit jüngeren Frau. An ihrem glänzenden, blass cremefarbenen Kleid funkelten winzige Lichter, als wäre es mit Sternen besetzt.
Hinter ihnen schritten Seite an Seite ihre nächsten Verwandten. Charlotte entdeckte Brennan direkt im Rücken des Großen Than. In seiner körperbetonten Jacke, deren Rot so dunkel war, dass es fast schwarz wirkte, sah er absolut blendend aus.
Du gemeiner, vermaledeiter Hund
.
Die Prozession fegte durch die Versammlung. Der Große Than führte die Marchesa zu einem Paar thronähnlicher Sessel. Sie setzte sich.
Die Frauen im Publikum erhoben sich. Darunter Charlotte. Als der Große Than Platz nahm, taten es ihm die Männer nach.
Brennan trat vor.
»Es ist Zeit, Mylady«, sagte die Frau, die Charlotte die Einladung übergeben hatte.
Sophie lächelte. Irgendetwas an ihrem Lächeln wirkte zutiefst beunruhigend.
Ein Kreis hatte sich gebildet, in dem Brennan Charlotte zunickte.
»Mylady, es ist so weit«, soufflierte die Frau erneut.
Wieder bewegte Sophie die Lippen.
Spider
.
Sebastian war Spider.
Mutter der Morgenröte. Und ich lasse Sophie direkt neben ihm stehen
.
Da trug ihr ein Windhauch die ersten Noten des Rioga zu. Charlotte blieb keine Zeit mehr. Sie konnte nun nur noch den ersten Schritt tun.
Richard gab sich gelangweilt. Neben ihm plauderte Rene mit Lorameh und Lady Karin, Renes Cousine. Bald würde der Tanz beginnen.
Seit neun Tagen hatte er nicht mit Charlotte gesprochen. Neun Tage Kontaktsperre. Georges Vögel zählten dabei nicht wirklich. Neun Tage brüten und alleine schlafen, nur er und seine Gedanken, die in letzter Zeit ziemlich düster waren. Er wollte sie sehen. Er wollte ihr sagen, dass er sie liebte, und hören, dass sie seine Liebe erwiderte. Sobald sein Mund nicht mehr mit Smalltalk beschäftigt war, drängten sich Gedanken an sie in den Vordergrund. Er stellte sich vor, wie es wäre, mit ihr zu leben. Und wie es wäre, ohne sie zu leben. Womöglich verlor er darüber noch den Verstand.
Da trat Brennan auf die große Terrasse hinaus.
Richard kämpfte gegen den Drang an, mit den Zähnen zu knirschen. Es fiel ihm immer schwerer, sich in Brennans Nähe aufzuhalten – zum einen, weil er den Kerl inbrünstig hasste, zum anderen, weil Brennans Glück ihm die eigenen Unzulänglichkeiten vor Augen führte. Dieser Mann, dem das Leben buchstäblich sämtliche Vorteile in die Wiege gelegt hatte, während er selbst nichts dergleichen bekommen hatte, nutzte seine Ressourcen und Talente, um vom Elend anderer zu profitieren. Richard konnte es nicht erwarten, Brennan endlich das Handwerk zu legen.
»Ich schätze, Robert ist das Opferlamm auf dem Altar des Rioga«, stichelte Rene.
»Ich bin gespannt, wer seine Partnerin ist«, sagte Lorameh.
»Angelia?«, schlug Lady Karin vor.
»Das hätte sie wohl gerne.« Lorameh wieherte.
Da setzte die Musik ein.
»Ich hoffe wirklich, er wird nicht versetzt«, sagte Rene in gespielter Sorge.
Die Menge teilte sich, und Charlotte wurde sichtbar.
Die Welt kam knirschend zum Stehen. Charlottes Kleid umwogte sie bei jedem Schritt, die transparenten blaugrünen Schichten Stoff, dünn wie Spinnfäden, ließen die Umrisse ihres Körpers erahnen, um sie gleich darauf wieder zu verhüllen. Sie ging nicht, sie schwebte.
»Göttlich! Wer ist sie?«, fragte Lorameh wie aus großer Ferne.
»Lady de Ney al-te Ran«,
Weitere Kostenlose Bücher