Seelentraeume
die einen Blaublütigen in einem dunkelgrünen Wams umringten. Der Mann war groß, blond und hinreißend schön. Er unterhielt die Jugendlichen mit einer Geschichte, sein Gesicht zeigte den behaglichen Ausdruck eines geübten Erzählers. Sein Publikum hing einmütig an seinen Lippen.
Charlotte schlenderte näher, analysierte seine Gestik. Nicht nur von Geblüt, von altem Geblüt. Und nicht aus Adrianglia, sondern zweifellos ein Abkömmling Louisianas: Mit einer eleganten Bewegung hob er die Hand, die Handflächen auswärts gekehrt, der Zeigefinger fast parallel zum Boden, drei weitere Finger leicht gekrümmt – ein eindeutiges Zeichen. Das Hofzeremoniell von Louisiana sah vor, dass Adlige in der Gegenwart ihres Herrschers ein Zeichen trugen, eine kleine Silbermünze mit seinem Abbild an einer Kette, die sie um ihre Finger wanden. Diese Geste diente dazu, die Münze zu zeigen, und war den älteren Familien so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sie unbewusst ausführten, wann immer sie während eines Streitgesprächs etwas verdeutlichen oder das Argument eines anderen zur Kenntnis nehmen wollten.
Charlotte ging nah genug heran, um den Mann belauschen zu können.
»… wie Ferrah feststellt, gibt es im Grunde keine höhere Berufung, als sich im Dienst für die Massen auszuzeichnen. Das Ich erfüllt seine Bestimmung nur, wenn es sich für das Wohl der Mehrheit einsetzt.«
Damit erntete er Kopfnicken und Beifallsbekundungen. Die Jugend war ehrlich verzückt.
»Aber sagt Ferrah nicht auch, dass es den ultimativen Verrat an einem selbst darstellt, wenn man die eigenen Moralvorstellungen kompromittiert?«, ließ sich aus dem Hintergrund Sophies Stimme vernehmen. Als die Gruppe junger Leute sich teilte, konnte Charlotte das Mädchen sehen. »Und da er die Moral als den höchsten Ausdruck von Individualität bestimmt, ist seine Argumentation widersprüchlich und fragwürdig.«
Der Blaublütige betrachtete sie aufrichtig interessiert. »Das scheint nur auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein, der sich jedoch auflöst, sobald man davon ausgeht, dass die Moralvorstellungen des Individuums mit den Zielen der Massen übereinstimmen.«
»Aber die sogenannten Massen setzen sich doch aus Individuen mit widerstreitenden Moralvorstellungen zusammen.«
»Schon.« Der Blaublütige lächelte. Der Disput bereitete ihm offenbar Freude. »Aber die Massen werden vom Selbsterhaltungstrieb bestimmt, deshalb entstehen für alle verbindliche Gesetze: Du darfst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen. Diese Gemeinsamkeit hat Ferrah dazu veranlasst, sich mit den Massen und dem Selbst zu beschäftigen.«
Sophie runzelte die Stirn. »Ich hatte eher den Eindruck, dass Ferrah sich mit den Massen und dem Selbst beschäftigt hat, weil er seine Schwester sexuell begehrte und darüber aufgebracht war, dass die Gesellschaft eine Heirat nicht zulassen wollte.«
Die jungen Leute hielten den Atem an. Doch der Adlige lachte nur. »Wessen Kleinod bist du, mein Kind?«
»Meins«, versetzte Charlotte.
Der Adlige wandte sich ihr zu und vollführte eine vollendete Verbeugung. »Dafür meine höchste Anerkennung, Mylady. Man findet in diesem Zeitalter nur sehr selten ein belesenes Kind. Machen Sie mir die Freude, mir Ihren Namen zu verraten.«
»Charlotte de Ney al-te Ran.«
Der Adlige richtete sich auf. »Ein sehr alter Name, Mylady. Ich bin Sebastian Lafayette,
Comte de Belidor
. Und dies ist …?«
»Sophie.«
Der Adlige schenkte Sophie ein Lächeln. »Wir sollten uns ausführlich unterhalten, Sophie.«
Sophie knickste in vollkommener Anmut. »Ich fühle mich geehrt, Mylord.«
»Ich hoffe, sie hat Sie nicht verärgert, Lord Belidor«, sagte Charlotte.
Der Adlige wandte sich ihr zu. »Bitte, nennen Sie mich Sebastian. Aber ganz im Gegenteil. Der Mangel an Eifer unter den Vertretern der jüngeren Generation betrübt mich häufig. Wir haben anscheinend, nun, nicht unbedingt eine bessere Erziehung genossen, hatten aber größeren Anreiz, etwas aus unserer Erziehung zu machen. Die Jugend lernt, aber sie denkt kaum.«
Hinter Sebastian machte Sophie stumme Zeichen.
Eine Frau in der dunkelblauen Uniform des Schlosspersonals erschien, verbeugte sich und wollte Charlotte eine kleine Karte übergeben. »Lady de Ney al-te Ran.«
»Entschuldigen Sie mich.« Charlotte lächelte Sebastian an und nahm die Karte. »Danke.«
Darauf stand in schönster Kalligrafie:
Seine Hoheit Lord Robert Brennan bittet Sie herzlich um das Vergnügen, mit
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