Seelentraeume
aus ihr herauspressen. Der Druck drängte sie, trieb sie weiter voran. Jeder Schritt bedurfte heftiger Anstrengung. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Der nächste Schritt. Noch einer. Die Magie drückte sie zu Boden. Charlotte krümmte sich. Wenn es sein musste, würde sie kriechen.
Noch ein Schritt.
Plötzlich hob sich die schwere Last. Magie überschwemmte sie, verjüngte ihren Körper. Eine absurde Empfindung, doch sie fühlte sich wie ein sich öffnender Blütenkelch am Morgen. Hätte sie Flügel besessen, so hätte sie diese gespreizt. Charlotte atmete langsam ein. Da war sie, jene vertraute Macht, die sie gewöhnlich ausübte. Während der Jahre im Edge, bei halber magischer Kraft, hatte sie vergessen, wie wunderbar es sich anfühlte.
Sie hatte nie verstanden, warum Éléonore nicht ins Weird gezogen war …
Éléonore.
Charlotte musste weiter. Die Sklavenhändler hatten mindestens eine halbe Stunde Vorsprung. Wahrscheinlich mehr. Vor ihr lag der alte Wald Adrianglias. Der Weg teilte sich. Wo lang? Rechts oder links?
Charlotte ging in die Knie, um die Hufspuren aufzunehmen. Ein Teppich aus alten Kiefernadeln bedeckte den Boden und verwischte die Spuren. Weil sie sich als Mädchen dafür interessierte, hatte sie die Grundlagen des Spurenlesens von einem alten, im Garner College lebenden Scout gelernt. Doch das war lange her, und besonders gut aufgepasst hatte sie auch nicht.
Aus dem Unterholz links ließ sich ein schrilles, lang gezogenes Heulen vernehmen. Sie drehte sich um. Ein Paar brauner Augen über einer großen, schwarzen Hundeschnauze blickte sie an.
Charlotte erstarrte.
Der Hund senkte den großen Kopf und gab ein weiteres klägliches Wimmern von sich. Sie roch Blut. Der Geruch traf ihren Heilerinneninstinkt wie ein Peitschenhieb. Die in ihr rasende dunkle Magie verschwand.
»Ganz ruhig.« Charlotte näherte sich dem Hund und ging in die Hocke. »Ruhig.«
Das Tier lag hechelnd auf der Seite.
Sie hielt ihm ihre Hand hin.
Die Hundeschnauze bebte, entblößte blitzende Fangzähne.
Mit ausgestreckter Hand blieb Charlotte stehen. »Wenn du mich beißt, kann ich dir nicht helfen.« Der Hund verstand zwar nicht den Sinn ihrer Worte, aber den Tonfall, in dem sie gesprochen wurden.
Langsam streckte sie die Hand weiter aus. Der Hund öffnete das Maul, schnappte zu, ohne ihre Finger zu erreichen. Das Tier war zu schwach.
»Wenn es dir gut ginge, würdest du mir die Hand abbeißen, was?«
Charlotte berührte das Fell, leitete einen Strom goldener Funken in den Leib. Ein Rüde. Niedriger Blutdruck. Ein glatter Durchschuss. Jemand hatte auf den Hund geschossen.
»Es wimmelt auf der Welt von schrecklichen Menschen«, teilte sie ihm mit und machte sich daran, den Schaden zu beheben. Die Kugel war in die Brust eingetreten, hatte den linken Lungenflügel durchschlagen und war auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Dem Aussehen der Wunde und dem Blutverlust nach zu urteilen mussten seitdem fünf bis sechs Stunden vergangen sein.
Charlotte flickte das verletzte Gewebe und baute die Lunge neu auf.
Der Hund streckte sich und leckte ihre Hand. Schnell, kurz, als schäme er sich seiner Schwäche.
»Du hast deine Meinung wohl geändert, seit es nicht mehr so wehtut?« Sie schloss die Wunde und tätschelte ihm den Rücken. Ihre Hand berührte ein Stachelhalsband. »Du gehörst aber nicht den Sklavenhändlern, oder?«
Der Hund erhob sich. Ein Riesenvieh – wenn sie beide standen, konnte er ihr locker seine Pranken auf die Schulter legen.
Charlotte stand auf. »Wo sind deine Besitzer?«
Der Hund sah sie an, schnüffelte und wandte sich nach rechts.
Besser konnte sie es nicht treffen.
»Also rechts«, sagte Charlotte und folgte dem Tier auf den Waldweg.
Knarrend holperte der Karren über eine Wurzel.
»Das ist weit genug«, rief eine raue Stimme. Voshak Corwen, ein betagter Sklavenhändler, der mehr als ein Dutzend Überfälle verzeichnen konnte. Nicht gerade eine Überraschung. Das war der Mann, den Tuline zu verraten versprochen hatte. Sie mussten übereingekommen sein, diese Falle gemeinsam aufzustellen. Nachdem Richard Tulines Bande aufgemischt hatte, hatte Voshak die Leute übernommen und ihn verfolgt.
»Wir rasten hier«, sagte Voshak.
»Wir sind nur noch zwei Stunden von der Grenze entfernt«, rief ein großer rothaariger Mann. Richard kannte ihn nicht. Wahrscheinlich eine Neuerwerbung. Sklavenhändler mussten ihre Reihen regelmäßig neu auffüllen – weil er sie ebenso regelmäßig
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