Seelentraeume
er.
»So hat sein Alter ihn immer genannt, wenn er sturzbetrunken war und ihn verdreschen wollte«, antwortete Richard. »Sein rechter Hoden ist seitdem verdorrt.«
Der Sklavenhändler schob die Kelle näher heran. Richard nahm drei tiefe, köstliche Schlucke, dann zog der Mann die Kelle zurück und ließ die Klappe einrasten.
Die Sklavenhändler schlugen ihr Lager auf. Ein Topf mit dem Fleisch von ein paar Kaninchen, denen man das Fell über die Ohren gezogen hatte, wurde über das Feuer gehängt. Voshak ließ sich am Feuer nieder, das Gesicht dem Käfig zugekehrt. Er beugte sich vor, stocherte in den Kohlen, sodass Richard den blonden Scheitel des Mannes betrachten konnte. Der menschliche Schädel war so ein zerbrechliches Ding. Wenn nur seine Hände nicht gefesselt wären.
Er musste überleben und den richtigen Moment abwarten. Die Sklavenhändler brachten ihn sicher zum Markt. Wenn es nach Voshak gegangen wäre, hätte der ihn vermutlich am nächsten Baum aufgeknüpft, dachte Richard grinsend. Und dann hätte er trotz Genickbruch noch ein paarmal auf seine Leiche eingestochen, sie danach ins Wasser geworfen und sie schließlich auch noch verbrannt. Für alle Fälle.
Irgendwer, der in der Nahrungskette der Sklavenhändler weiter oben stand, hatte offenbar erkannt, dass das Fußvolk den Jäger fürchtete. Nun wollte man die Moral der Truppe heben, indem man sein Hinscheiden in Szene setzte. Richard hätte womöglich ein Jahr drangegeben, um diesen Markt kennenzulernen, aber zu ihren Bedingungen wollte er nicht dorthin. Es würde sich ihm schon eine Gelegenheit bieten. Er musste sie nur beim Schopf packen und das Beste daraus machen.
Wenn er versagte, würde Sophie ihn ersetzen. Der Gedanke daran jagte Richard Angst ein.
Rache war eine ansteckende Krankheit. Eine Zeit lang verlieh sie einem Kraft, aber auf Dauer fraß sie einen auf. Wie Krebs. Hatte man das Rachebedürfnis gestillt, war man nur noch die Hülle seiner selbst. Dann begann der Rachefeldzug der Angehörigen des Opfers. Der Kreis setzte sich fort. Richard hatte diese Lektion schon mit siebzehn gelernt, als die Kugel einer Familie, die mit seiner in Fehde lag, im Kopf seines Vaters explodierte und ein Sprühregen aus Blut über dem Marktstand niedergegangen war. Ein unwiederbringlicher Verlust. Kein Leichenberg würde ihm seinen Vater zurückbringen. Richard war damals bereits ein Kämpfer gewesen, ein Killer, und er hatte weiter getötet, aber niemals aus Rache. Er nahm Leben, um seine Familie zu schützen, damit die nachfolgenden Generationen nicht erfahren mussten, was es bedeutete, wenn einem die Eltern entrissen wurden. Er kämpfte für die Sicherheit der anderen.
Und scheiterte.
Sophie stand vor Richards innerem Auge – wie sie gewesen war: ein lustiges, hübsches, furchtloses Kind. Der morastige Sumpf erschien vor ihm. Als er Sophie endlich in einem der Löcher gefunden hatte, stand sie auf der Leiche eines von ihr getöteten Sklavenhändlers. Er zog sie heraus und in ihren Augen brannten eine Furcht und ein Hass, die im Gesicht einer Zwölfjährigen nichts zu suchen hatten. Sie hatte die Sklaverei überlebt, würde jedoch nie mehr dieselbe sein.
Er hatte gehofft, die Jahre würden ihre Wunden heilen, doch die Zeit machte alles nur noch schlimmer. Ohnmächtig sah er zu, wie Angst und Hass sich allmählich in Selbstekel verwandelten. Als sie ihn darum bat, sie im Schwertkampf zu unterweisen, hatte er darin einen Zeitvertreib gesehen. Sophie war vorher nie eine gelehrige Schülerin gewesen, ganz gleich, ob ihr Vater sie unterrichtet hatte oder ihre Schwester. Er dachte, sie würde sich langweilen, doch weit gefehlt.
Ihr Selbsthass wuchs und reifte zu eisenharter Entschlossenheit. Sie stand ihr jeden Morgen ins Gesicht geschrieben, wenn sie ihr Schwert nahm, um mit ihm zu trainieren. Bald konnte er ihr nichts mehr beibringen. Und eines Tages würde sie feststellen, dass sie gut genug war, sie würde ihre Klinge nehmen und auf die Jagd gehen. Er würde sie nicht aufhalten können, also hatte er beschlossen, ihr zuvorzukommen. Das hatte nichts mit Rache zu tun, sondern mit Gerechtigkeit. Die Welt hatte Sophie, indem sie Sklavenhändler duldete, im Stich gelassen. Und er hatte sie im Stich gelassen, als sie unter ihnen gelitten hatte. Nun hoffte er, ihr Vertrauen in ihn und die Welt wiederherstellen zu können.
Da trat eine Frau aus dem Wald. Groß, etwa eins achtzig, blass. Ihre verblichenen Jeans mit Dreck bespritzt. Ihr lavendelblaues
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