Seelentraeume
vermutlich grün und blau geschlagen. Auf den Lippen schmeckte er Matsch von irgendeinem Stiefelabsatz. Ein alles andere als angenehmer Geruch verriet ihm, dass sich jemand die Zeit genommen hatte, auf seine Brust zu urinieren. Sklavenhändler, ein bezaubernder Haufen, stets bereit, einem ihre legendäre Gastfreundschaft angedeihen zu lassen.
Die Wunde in seiner Flanke schmerzte nicht mehr, und ganz gegen seine Erwartungen war er noch am Leben.
Wie um alles in der Welt kam das? Er war häufig genug verwundet worden, um zu wissen, dass der Stich in seine Leber selbst dann lebensgefährlich gewesen wäre, wenn er sofort danach durch Zauberkraft auf einen Operationstisch transportiert worden wäre. Stattdessen war er noch stundenlang damit herumgerannt und hatte sich so zuverlässig den Rest gegeben.
Er erinnerte sich, an einer Straße zu Boden gegangen zu sein. Und von da bis zu diesem Käfig war irgendwas passiert, etwas, das er nicht zu fassen bekam. Aus irgendeinem Grund kam es ihm so vor, als hätte Éléonore, Roses Großmutter, die er mal kennengelernt hatte, etwas damit zu tun. Dann tauchte eine weitere Erinnerung auf: eine Frau mit grauen Augen und blonden Haaren. Ihr Gesicht blieb verschwommen, doch an ihre Augen unter schwungvollen dunkelblonden Brauen erinnerte er sich. Tief blickende, schöne Augen – in seiner verschwommenen Erinnerung wirkten sie durchscheinend –, deren sorgenvoller Blick ihn gefangen nahm. Schon seit Jahren hatte ihn niemand mehr so angeschaut. Fast glaubte er einer Vorspiegelung seines halluzinierenden Gedächtnisses aufzusitzen, das in seinem bitteren, blutigen Leben nach einem Hoffnungsschimmer Ausschau hielt.
Es sei denn, jemand hatte ihn geheilt, schließlich war seine Wunde nicht mehr da. Und Stichwunden verschwanden nicht von alleine. Das in seinem Gehirn abgespeicherte unscharfe Bild der grauäugigen Frau bekam so eine gewisse Glaubwürdigkeit, wenngleich Heilmagie außerordentlich selten und sehr kostspielig war. Im Edge jemanden zu finden, der sich darauf verstand, schien extrem unwahrscheinlich. In die Hölle des Edge ging man nur, wenn man im Weird und im Broken unerwünscht war. Und eine dermaßen begabte Heilerin würde im Weird mit Gold aufgewogen.
Diese Überlegungen führten zu nichts. Dass er noch lebte, ließ sich nicht überzeugend erklären, also war es das Beste, diese Frage fürs Erste zu vernachlässigen. Seine größten Probleme waren momentan der Käfig und die Bande Sklavenhändler, die ihn bewachte.
Wie lange er bewusstlos gewesen war, konnte er nicht sagen, aber allzu lange wahrscheinlich nicht. Sie zogen durch die Wälder des Weird, die Magie umgab sie mit Macht. Der Wald rückte nahe heran, die gewaltigen, von der Magie und der fruchtbaren Erde Adrianglias genährten Bäume wuchsen in ungeahnte Höhen. Vor diesem Hintergrund wirkten die Reiter auf dem kaum sichtbaren Pfad unbedeutend und klein. Die Pferde gingen im Schritt, der Wagen, der ihn trug, hielt sie auf.
Richard katalogisierte die Gesichter. Ein paar waren neu, doch ungefähr die Hälfte kannte er als vortreffliche Exemplare des Abschaums der Menschheit. Ihre Namen fielen ihm ein, ihre kurzen Lebensläufe, ihre Schwächen. Er hatte sie studiert, wie andere Menschen Bücher studierten. Einige hatten Familie, einige waren schon irre geboren, andere schlicht gierig und dumm. Die meisten trugen Gewehre oder Klingen, ihre Ausrüstung war abgenutzt und nicht allzu sauber. Wolfshunde entdeckte er nicht, hörte auch keine. Wo mochten die Bestien abgeblieben sein?
Charlotte stieg aus dem Truck. Vor ihr endete der überwucherte Feldweg und ging in einen Waldweg über. Die Grenze. Sie spürte sie bis ins Knochenmark, ein seltsamer, beunruhigender Druck, der ihr die Luft aus den Lungen zu quetschen drohte.
Die Sklavenhändler waren hier durchgekommen. Die Reiter hatten das Unterholz niedergedrückt. Sie sah die Hufspuren sowie die Zwillingsrillen breiter Räder. Sie hatten also ein Fahrzeug, allerdings kein von Magie angetriebenes wie die modernen Phaetons, sondern einen altmodischen, von Pferden gezogenen Karren, wie sie noch von der Landbevölkerung in den Provinzen benutzt wurden. Die Spur führte über die Grenze, sie würde daher denselben Weg einschlagen. Bei ihrem letzten Grenzübertritt hatte sie das Gefühl, ihrer Magie beraubt zu werden, beinahe umkehren lassen.
Charlotte holte tief Luft und betrat den Grenzstreifen. Die Magie erfasste sie, packte ihre Organe, als wollte sie das Leben
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